Startseite
Sport
Radsport
In Gränichen werden Jolanda Neff und Nino Schurter Schweizer Meister im Mountainbike. Ohne Zuschauer in einem Geisterrennen.
Die Eidechse hat es gut. Fast unbemerkt huscht sie über den Trampelpfad, der entlang der Mountainbike-Rennstrecke in Gränichen führt. In anderen Jahren wäre das ein hochriskantes Unterfangen. Doch weil coronabedingt keine Zuschauer an den Schweizer Meisterschaften erlaubt sind, führt das Tier ein ruhiges Leben. Nur sporadisch fahren Frauen und später am Tag Männer auf ihren Mountainbikes vorbei. Im Fussball gibt es Geisterspiele. Ist das jetzt ein Geisterrennen?
Zumindest im hinteren Teil des Kieswerks ist es gespenstisch ruhig und das Leben der Sportlerinnen und Sportler einsam. Vor allem für Jolanda Neff, die sich schon früh von der Konkurrenz absetzt und fortan alleine ihre Runden dreht. Wo sonst die Zuschauer stehen und schreien, ist jetzt fast nichts los. Nur vereinzelt ruft ein Betreuer «allez» oder «hopp». Und manchmal die Eltern. «Egal, wie viele Leute an der Strecke sind und applaudieren, ich höre immer die gleichen Stimmen», sagt Neff. Sie filtert ihre Liebsten quasi heraus. An diesem Sonntag ist das kein Kunststück.
Nino Schurter, der Sieger bei den Männern, filtert nicht. Er liebt, wenn die Fans klatschen, und vermisst die Kuhglocken, mit denen sie ihn sonst nach vorne treiben. Am Sonntag braucht er lange, bis er seinen letzten Begleiter, Mathias Flückiger, abhängt. Erst kurz vor dem Ziel gelingt es. Zuvor hat er es ein paar Mal versucht. «Die Fans helfen, es auch noch ein achtes Mal zu probieren, wenn es siebenmal nicht geklappt hat», sagt Schurter. Ohne Zuschauer muss er sich selber motivieren. Das geht zwar. Aber weniger leicht.
Die Athletinnen und Athleten sind aber vor allem froh, überhaupt Rennen zu fahren. Das durften sie lange nicht. Erst vor einer Woche startete die Saison. So spät wie nie zuvor. Covid-19 hat den Mountainbikesport lahmgelegt, wie so vieles anders auch. Eigentlich stünde am Montag in Tokio das Olympiarennen auf dem Programm und am Dienstag jenes der Frauen. In Japan wäre Schurter als Titelverteidiger an den Start gegangen. Jetzt muss er ein Jahr länger warten, bis er sein Ziel vom zweiten Olympiagold in Angriff nehmen kann. «Vielleicht war das heute das wichtigste Rennen der Saison», sagt Schurter. Weil niemand sagen kann, ob die geplanten Weltcups und die WM in diesem Jahr stattfinden werden.
Schurter ist nun neunfacher Meister. Jolanda Neff schlüpft zum sechsten Mal in das Trikot mit dem weissen Kreuz auf rotem Grund. «Aber dieser Titel ist der speziellste», sagt sie. Am 22. Dezember des vergangenen Jahres stürzt sie im Training schwer. Die Diagnose: Milzriss, Lungenkollaps und Rippenbruch. Erst vor zwei Monaten kann sie langsam wieder mit dem Training beginnen. Vor einer Woche belegt sie beim Comeback Rang zwei. Am Sonntag distanziert sie in Gränichen die Konkurrenz um zweieinhalb Minuten. Und sucht nach einer Erklärung. «Ich konnte so lange nicht trainieren. Vielleicht habe ich in der Vergangenheit ja zu viel trainiert.» Sie lacht. «Nein, im Ernst: Zu sehen, dass ich es noch kann, dass ich mit einem Puls von 180 keine Atemprobleme bekomme, dass ich wieder Gas geben kann und null Schmerzen habe, tut sehr gut.»
Gut tut das Rennen allen. Weil es eben etwas anderes ist, sich im Wettkampf zu messen als nur zu trainieren. Natürlich werden die Zuschauer vermisst. «Aber», sagt der lokale OK-Präsident Manuel Eichenberger. «Am schönsten ist, dass wir überhaupt ein Rennen haben.» Zwar fehlen ohne Fans die Einnahmen. Doch der organisierende RC Gränichen kann dank der Unterstützung aus dem Swisslos-Sportfonds trotzdem ohne Verlust abschliessen. Und es zeigt noch etwas anderes: Der Sport steht im Zentrum. Auf eine Durchführung zu verzichten, nur weil kein Gewinn für die Vereinskasse in Aussicht steht, stand in Gränichen nie zur Debatte. Es ist ein Engagement, das vom nationalen Verband geschätzt wird. Schliesslich braucht auch Swiss Cycling Rennen, um beispielsweise die Teilnehmer für die WM zu selektionieren. So sie denn stattfinden wird.
Um die Coronaauflagen zu erfüllen, haben die Organisatoren Armbänder verteilt, um zu kontrollieren, dass die maximale Zahl der Anwesenden die 1000er-Grenze nicht überschreitet. «Zudem haben wir noch etwas Reserve eingeplant», sagt Eichenberger. Damit die wenigen Zuschauer, die trotz Aufruf, zu Hause zu bleiben, irgendwo entlang der Strecke stehen, ins Budget passen. Lokalmatador Matthias Stirnemann, der sein Heimrennen auf Rang sechs beendet, sagt: «Hier hat es oft Wanderer. Die haben sich wohl einfach verlaufen.» Sein Lächeln verrät, dass er das selbst nicht wirklich glaubt. Aber den Organisatoren war schon im Vorfeld bewusst, dass ein über vier Kilometer langer Rundkurs nicht komplett kontrolliert werden kann. Entsprechend wurden einige Fans im Konzept eingerechnet, um keinen Rennabbruch zu riskieren.
So speziell das alles ist. Eines bleibt wie immer: Nach dem Sieg muss Nino Schurter zur Dopingkontrolle. Die Jäger für Gerechtigkeit sind auch in Coronazeiten aktiv. Gut so.