Als Alteingesessener nehme ich es wahr: In einem Dorf verändert sich vieles während eines Menschenlebens.
Einst wurde das Wachstum Oensingens durch die Eisenwerke der von Roll AG mitgeprägt. Die Werksleitung schätzte es nicht, wenn leitende Angestellte in Oensingen Wohnsitz nahmen.
Das wurde meinem Vater 1953 auf dem Direktionsbüro nahegelegt. Es sei üblich, dass leitende Angestellte der von Roll in Balsthal ihre Steuern bezahlten.
Jetzt wissen wir also, wo, historisch betrachtet, die mässigen Steuereinnahmen Oensingens fussen könnten: Dort, in Balsthal, wo «die besseren Herren» ihre Gaumenfreuden im Hotel Rössli beim legendären Meisterkoch Wanowitsch befriedigten. Während in Oensingen die Giesser und Büezer im «Kreml» (alias Restaurant Bechburg) bei Fritz den Russ mit Schnaps aus ihrer Lunge spülten.
Noch etwas: Die Herren der Direktion unternahmen jeweils mit den werkseigenen Pferden gemeinsame Ausritte. Dafür taugte Oensingen bestens. Diese Ausritte führten an unserem Haus vorbei. Ich realisierte schon als Kind, wie gross der Kontrast der Reiter hoch zu Ross zu unserem Nachbarn, dem hageren Gussputzer Otto Strasser, vom «Strohhaus», sich offenbarte. Der Vater von fünf Kindern besass ein Fahrrad, dessen Farbe man nicht ausfindig machen konnte, weil es von rostfarbigem Russ der Emissionen des Eisenwerkes überzogen war. So musste auch seine Luge ausgesehen haben. Otto Strasser sah man nie auf dem Fahrrad seines Weges fahren, vielmehr benutzte der Bedauernswerte dieses als Gehhilfe. Seine Pension sollte er nicht erleben.
Zur gleichen Zeit besass mein Vater einen Skoda. Mit dieser Fahrhabe bewegte er sich zwischen den Welten: Zu Zeiten des kalten Krieges einen Skoda - in kommunistischen Landen produziert - zu fahren, weckte besonders bei Direktoren im Offiziersgrad, die eher eine englische Karosse bevorzugten, keine Begeisterung. Mit diesem, sonst eher exotischen Auto begab sich mein Vater täglich zur Arbeit in die Klus. Deshalb erhielt sein Skoda jedes Wochenende jene Spezialbehandlung, die auch der Lunge des Gussputzers gut getan hätte: Mit Watte und Wachs rieb er mit kreisenden Bewegungen mühevoll den gefürchteten Kluser Russ von der Karosserie. Wir wissen: Heute spuckt kein Kamin mehr Dreck in der Klus.
Neue Arbeitsplätze zu schaffen, galt fortan als oberste Maxime der Oensinger Politik. Sie anerbot sich, dafür den Boden zu ebnen. Arbeitsplätze oberster Qualität wünschte man sich. Gutes Land konnte man anbieten. Aber die Realität ist anders gewachsen. Die Bell AG ist zwar als grösster Arbeitgeber in die Fussstapfen der von Roll AG getreten. Das geplante riesige Parkhaus verrät, was dabei herauskam: In Oensingen arbeiten und auswärts wohnen. Ob die Direktion der Bell AG ihren Angestellten nahelegt, es geziemte sich nicht, den Steuerbatzen ausserhalb von Oensingen zu begleichen? Sollten die Angestellten tatsächlich den Wunsch verspüren, in Oensingen zu wohnen, wenn man ihnen günstigen Wohnraum zur Verfügung stellte, rennten sie an.
Solche Begehrlichkeiten vermag der aktuelle, von auswärtigen Investoren gesteuerte Oensinger Immobilienmarkt nicht abzudecken. Er hat primär eine andere Klientel im Visier - die Pendler. So muss man schon fast seufzend sagen: Welch ökologischer Unsinn. Gegensteuer wäre allseits gefragt. Leider beschränkt sich die Politik gefühlt allein darauf, verkehrstechnischen Anliegen nachzukommen: dreispurige Autobahn, Verkehrsanbindung und Umfahrung des Übels. Lässt sich kluge Politik so definieren?