Quartier-Serie
Von den «guten Seelen» der Solothurner Weststadt

Seit einem halben Jahrhundert sind die Angelinis in der Weststadt zu Hause. Sie gehören zum Quartier – und das Quartier zu ihnen.

Andreas Kaufmann
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Ina Angelini mit Tochter Vanessa, Enkelin Marta und Gatte Ezio in ihrem Wintergarten an der Brunngrabenstrasse. Bild: Andreas Kaufmann

Ina Angelini mit Tochter Vanessa, Enkelin Marta und Gatte Ezio in ihrem Wintergarten an der Brunngrabenstrasse. Bild: Andreas Kaufmann

Andreas Kaufmann

«Er ist die gute Seele des Hauses», rühmt Peter Müller, der an der Brunngrabenstrasse 2 ein Immobilienbüro führt, seinen Nachbarn. Besagtes Haus ist besser bekannt als Weststadt-Coop. Und die «gute Seele», die Müller an diesem Tag besucht hat, ist Ezio Angelini.

Er und seine Frau Inuccia – die man vor allem als «Ina› kennt – schauen hier seit 20 Jahren als Hauswarts-Paar zum Rechten: lange fürs ganze Gebäude, seit kurzer Zeit lediglich für den Wohnbereich. Und dass beide die Weststadt in- und auswendig kennen und lieben, liegt daran, dass das Quartier ihnen seit rund 50 Jahren zur Heimat geworden ist.

«Früher war in der Weststadt keine Haustüre abgeschlossen»

Der heute 69-jährige Ezio Angelini zog 1967 nach abgeschlossener Lehre aus den Abruzzen in die Schweiz, nachdem bereits sein Vater als Saisonnier hier tätig gewesen war. Als Elektromechaniker gehörte Ezio Angelini einer gesuchten Berufsgattung an und erhielt rasch eine Aufenthaltsbewilligung.

Quartier-Serie

Solothurn gilt als Stadt der unterschiedlichsten Quartiere. Doch wie wird die engere Wohnumgebung von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern wahrgenommen? Wir besuchen sie und gehen ihren Befindlichkeiten nach.

Heute im sechsten und letzten Teil bei den Angelinis in der Weststadt.

Bei der Firma Scintilla lernte er seine künftige Frau Ina kennen. Die heute 70-Jährige war – auch nach ihren Eltern – bereits 1964 aus Sizilien in die Schweiz gezogen und arbeitete alsbald bei der Scintilla als Fabrikarbeiterin. Nach der Heirat 1970 fassten Angelinis in der Weststadt Fuss. «Schon früher waren die Menschen hier sehr freundlich», erinnert sich Ezio Angelini. «Ausserdem war keine Haustüre abgeschlossen», weiss er.

Die «Nonni» hüten gern und viel

Am Birkenweg, einen Steinwurf vom heutigen Zuhause entfernt, wuchsen die Angelinis zur sechsköpfigen Familie an: So erlebten und genossen Annalisa, Carlo, Angela und als Nachzüglerin Vanessa ihre Kindheit in der Weststadt, wie Ezio und Ina Angelini schwärmen. Und waren es früher die Kinder, die Ezio Angelini gerne und stolz im Kinderwagen durchs Quartier chauffierte, sind es heute die acht Enkelkinder.

Die «Nonni», wie sie genannt werden, übernehmen gerne und häufig den Hütedienst – wie an diesem Tag, da die zehn Monate alte Marta an der Brunngrabenstrasse 2 zu Besuch ist und die Wippe im lichtvollen Wintergarten freudig in Beschlag nimmt.

«Wenn Ihr brav seid, gibts Pizza»

Hierhin waren die Angelinis 1994 umgezogen, in ihre Eigentumswohnung. «Im Coop mussten wir jeweils aufpassen, dass die Kinder die Blumen in ihren Töpfen lassen», erinnert sich Ezio Angelini und grinst. «Wenn sie sich daran gehalten haben, gabs zur Belohnung eine Pizza.» Vor allem Ina Angelini hat sich bald mit vielen Engagements um das Quartierleben bemüht: in der Damenriege des Schulhauses Brühl zum Beispiel.

Ebenso war sie bei der Netzgruppe im «Brühl» dabei, die die Zusammenarbeit von Eltern mit und ohne Migrationshintergrund fördern sollte. Dort wirkte sie zudem als Kinderbetreuerin, passte auf die Kinder von Migrantinnen auf, die einen Deutschkurs absolvierten. «Ich habe mich immer für die Weststadt eingesetzt.»

Spaziergänge und Velotouren durchs Quartier

Ezio Angelini hat sich neben seiner 45 Jahre dauernden Anstellung bei der Langendörfer Maschinenfabrik Truninger vor allem in der Freizeit seinem Heimatquartier gewidmet – und tut dies noch heute gerne, «indem ich spazieren gehe, Velotouren mache oder Ausflüge in die Badi oder ins Fussballstadion unternehme.»

Ausserhalb des Quartiers, nämlich im Alten Spital, haben die Angelinis zudem über 14 Jahre im Vereinslokal der Migrantenorganisation Colonia Libera Italiana gewirtet. «Auch viele Schweizer oder Portugiesen kamen hierhin», so Ezio Angelini.

«Heute sind noch viel mehr Kulturen vertreten»

Damals, als sich Angelinis die Weststadt zur Heimat machten, lebten neben Schweizern vor allem Italiener, Spanier und Portugiesen hier, erinnern sie sich. «Heute sind hier noch viel mehr Kulturen vertreten», so Ina Angelinis Feststellung. Und: «Schweizer und Italiener haben sich einander unterdessen angenähert.» Sodass, wie Ezio Angelini ergänzt, er sogar mehr Schweizer als italienische Freunde zähle. «Aber das Zusammenleben unter verschiedenen Kulturen klappt gut», stellt Ina Angelini fest.

Feste werden oft zusammen gefeiert, ungeachtet der eigenen Gesinnung oder Kultur. «Was zählt, ist nicht die Religion, sondern der Anstand untereinander», sagt sie. Nachdenklich wird sie bloss, wenn sie hört, wie vereinzelt Schweizer Familien aus dem Quartier wegziehen, weil hier viele Ausländer wohnen würden. Diskussionspunkt ist oft die Durchmischung der Brühl-Schulklassen. «Dabei könnten gerade Kinder von anderen Kulturen viel lernen.»

«Ich habe mich nirgends so wohl gefühlt»

Heute wohnen noch zwei Angelini-Töchter im Quartier. Die eine davon, Vanessa Di Marco, klopft gerade bei den «Nonni» an, um ihre Tochter Marta abzuholen. Auf die Weststadt angesprochen, schwärmt sie: «Ich habe mich nirgends sonst so wohl gefühlt wie im Quartier.» Die Weststadt, sagt sie, «hat meine Einstellung und meine Werte geprägt.»