Stadtbummel
Wacker und unverändert?!

Die Fasnachtstraditionen lassen vergangene Zeiten aufleben. Das behagt nicht allen.

Judith Frei
Judith Frei
Drucken
Turnschuhe und Jeans erinnern daran, dass wir im 21. Jahrhundert leben.

Turnschuhe und Jeans erinnern daran, dass wir im 21. Jahrhundert leben.

Hanspeter Bärtschi

Über zwei Wochen lang konnte ich meine Wohnung nicht verlassen. Zuerst hatte mich das berüchtigte Virus ins Bett geworfen. Dank Impfung war ich ziemlich schnell wieder auf den Beinen, doch eine tiefe Müdigkeit blieb. So hatte ich es mir dann zu Hause eingerichtet. Die Aussenwelt war dank Internet nur einen Klick entfernt, vermisst habe ich sie nicht sonderlich.

Doch draussen drehte die Welt weiter, und so ging ich wieder auf die Gassen: Es ist Hilari, da will ich dabei sein. Und auch die Sonne lockt natürlich nach draussen.

An diesem Morgen kam mir der Weg auf die Redaktion merkwürdig vor. Alles war mir vertraut, aber trotzdem irgendwie fremd. Als ob ich nicht einige Tage, sondern Jahre nicht mehr an diesen Orten vorbeigekommen wäre. Vielleicht war auch mein Hirn durch ungewohnt viel Sauerstoff überfordert.

In Gedanken versunken, schlenderte ich durch die Hauptgasse. Bis ich bemerkte, dass aus einem Haus ein Mann in einem grünen Gewand heraustritt. Nach ihm kam sein Doppelgänger heraus, dicht gefolgt von dessen Doppelgänger.

Wie Soldaten in Uniformen schritt die Narrenzunft Honolulu durch die Stadt. Der Schnitt der Gewänder stammt aus dem 19. Jahrhundert (siehe Text oben). Trotz Jeanshosen und Turnschuhen, die unter den Gewändern hervorlugten, bekam ich sofort das Gefühl, dass eine längst vergangene Zeit wie ein Zombie auferstanden ist.

Eine Zeit, in der Ausgelassenheit nur während der fünften Jahreszeit erlaubt war. Eine Zeit, in der Frauen keinen Zugang zum Leben in der Öffentlichkeit hatten. Eine Zeit, in der die Personen in der Öffentlichkeit Männer waren. Eine Zeit, die ich für immer tot geglaubt hatte.

Als dann zur Umbenennung der Rathausgasse schon am Mittag die Weissweingläser klirrten, gab ich auf und mich damit ab, dass ich unfreiwillig durch ein Portal geschritten war und eine Zeitreise gemacht hatte.

Das Ganze nahm ein jähes Ende, als der Männertross das politische Oberhaupt der Stadt absetzte: Stadtpräsidentin Stefanie Ingold. Ich war nicht in ein Paralleluniversum gefallen, stellte ich erleichtert fest. Ich war Zeugin einer langjährigen Tradition, die bis jetzt wacker und unverändert weitergelebt wird. Durch ihre Kontinuität wurde für mich deutlich sichtbar, wie sich unsere Gesellschaft verändert hat. Die «guten» alten Zeiten haben sich für immer verabschiedet, doch ihre Traditionen bleiben noch eine Weile. Bis sich auch diese verändern, davon bin ich überzeugt.