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Die Gastkünstlerin Anita Gratzer erkundet, wie sich der Mensch in Wissen kleidet.
Wächserne Moulagen-Gesichter auf dem Tisch, Tierschädel auf dem Fenstersims, Anatomie-Poster an der Wand: Im Alten Spital haben – wie früher – Medizinwissenschaften Einzug gehalten. Tatsächlich hatte sich die Österreicherin Anita Gratzer auch wegen des spannenden Namens ihrer Unterkunft für eine «Artist in Residence»-Gastzeit in Solothurn beworben, gibt sie schmunzelnd zu; obwohl sie die Schweiz auch durch einen früheren Besuch mit herzlichen Begegnungen im Sinn hatte.
Und so ist die Fotografin und Künstlerin mit Interesse für Leib und Seele des Menschen seit wenigen Wochen im Gastkünstler-Atelier einquartiert. Unrast manifestiert sich schon heute beim Blick auf die mehreren Installationen, denen sie sich im abwechselnden Turnus annimmt. «Ich arbeite rund um die Uhr.» Und nicht nur dies: «Schon in kurzer Zeit musste ich bereits einen Titel für die Arbeit hier in Solothurn zur Hand haben», erinnert sie sich. Dabei stiess sie auf einen kurzen, aber facettenreichen Begriff, der ihre Tätigkeit hier zusammenfassen soll: «Persona» – was «Gesicht» heisst, aber letztlich auch «Maske».
Um Verhüllungen und Enthüllungen, um das, was verborgen bleibt und das, was durchschimmert, geht es auch in ihrem hiesigen Arbeitszyklus. Sie lässt sich dabei direkt von der Persönlichkeitstheorie C. G. Jungs inspirieren, die auch den «Persona»-Begriff kennt. «Er zeigt auf, wie Individualität vorgetäuscht wird», sagt die Linzerin mit Wurzeln im Salzkammergut. Ihr hauptsächliches Rohmaterial setzt sich aus kaputten Büchern zusammen, deren Seiten sie eine neue Bestimmung gibt, «quasi als Hommage an das gedruckte Wort.»
So werden Tierschädel mit Seiten japanischer Kalligrafie überzogen, was Gratzer «Schafsbibliothek» nennt. Und eine Mannequin-Büste enthält durch Blätter eines alten Messbuchs eine neue «Haut». Oder dann werden im Sinne einer Kulturkritik Ein-Yuan-Noten mit Mao Tse Tungs Konterfei – das in China noch immer zelebriert wird – zur Zwangsjacke geschneidert.
Dass der Text, das Wissen durch die Haut in den Körper dringt und so verinnerlicht wird, oder von innen durch die Haut nach aussen durchbricht, sind wiederkehrende Themen bei Gratzer: «So wird die Kleidung zu ‹Wissensprothesen›», wie sie sie nennt. Das zum Kleid, zur Stütze gewordene Wissen – meist in Form religiöser Texte –, ist Tarnung, Schutz und Täuschung zugleich.
Die Fertigung dieser Installationen ist jedoch lediglich eine Prozessstufe zu Gratzers eigentlichem Arbeitsziel. Die geschaffene Kleidung wird – zusammen mit Rorschachtest-artigen Hintergründen zur Requisite für inszenierte Personen-Fotografie. Den Fotografierprozess allein aber findet Gratzer langweilig, weil zu kurzzeitig: «Mich interessiert der porträtierte Mensch dahinter; sodass seine Geschichte und meine Geschichte zu einem Bild werden.»
Eindrucksvoll beweisen dies Gratzers bisherige Arbeiten, wo die Porträtierten aus Ländern rund um die Welt beinahe auf surreale Weise mit ihrer künstlerisch inszenierten Umgebung verschmelzen. Was danach folgt, ist eine Nachbearbeitung der Fotonegative selbst, die ebenfalls viel Zeit in Anspruch nimmt. Mehr Zeit, als ihr hier bleibt. «Ich könnte viel länger in Solothurn bleiben», sagt Gratzer schon heute wehmütig. Doch nicht nur wegen der Arbeit. Denn: «Um die Menschen hier fühlt man sich einfach wohl.»