Die Jünger von «Sex-Guru» Samuel Widmer erheben Mobbing-Vorwürfe gegen die Berner Tagesklinik und wollen in Solothurn demonstrieren.
Es war im letzten Juni, als Psychologin Celina Burger zum Gespräch mit der Leitung einer Berner Tagesklinik für Alkoholkranke aufgeboten wurde. Seit gut einem Jahr arbeitete sie bereits in der Institution. Und dann: Kaum war sie im Besprechungszimmer angelangt, wurde ihr die Kündigung in die Hand gedrückt.
Grund: Der Klinikleitung war bekannt geworden, dass sie der Kirschblütengemeinschaft rund um den als «Sex-Guru» bekannten Arzt und Psychotherapeuten Samuel Widmer aus Lüsslingen/Nennigkofen angehört. Seit Ende 2010 ist die 48-jährige Mutter eines Sohnes jetzt arbeitslos. «Irritierend war die Kündigung für mich vor allem deshalb, weil mir die Klinikleitung immer wieder versichert hat, dass man mit meiner Leistung vollauf zufrieden ist.»
Seit rund einem Jahrzehnt sorgen der umstrittene Psychiater, Psychotherapeut und Autor Samuel Widmer und seine Kirschblütengemeinschaft für Schlagzeilen. Zuerst, weil seine Anhänger, vor allem aus Deutschland, sich rund um seine Praxis in Lüsslingen niederlassen. Einheimische fürchten, Widmer unterwandere das Dorf und werde einmal das Sagen haben.
Aktuell leben rund 80 Anhänger und ebenso viele Kinder in Lüsslingen und Nennigkofen. Zu viel des Guten sind vielen auch Widmers Lebensweise und -ansichten: Er zelebriert Bigamie, propagiert die freie Liebe und schreibt vom «ehrbaren Inzest», egal ob zwischen Vater und Tochter oder Therapeut und Patientin. Für Aufsehen sorgte 2006 eine Reportage des Schweizer Fernsehens. Thema war die in Widmers Praxis angewandte Psycholyse, bei der Patientinnen und Patienten Halluzinogene resp. Drogen verabreicht werden, um sich der Wirklichkeit zu öffnen.
Die Therapie ist unter Fachleuten umstritten. So forderte etwa Teddy Hufschmied, ehemaliger Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, aufgrund der Sendung, der Kanton Solothurn solle Widmer die Praxisbewilligung entziehen. Das Gesundheitsamt kontrolliert Widmers Praxis regelmässig. Bislang gabs nie Anlass für eine Verwarnung oder gar einen Bewilligungsentzug. (mz)
«Jetzt reichts»
Die Psychologin ist nicht die einzige Widmer-Jüngerin, die derzeit mit Problemen auf dem Arbeitsmarkt zu kämpfen hat. Von den rund 100 Männern und Frauen, die sich von den therapeutischen Maximen - und dem unkonventionellen Lebensstil - ihres Lehrmeisters angezogen fühlen, sehen sich rund 20 in ihrer materiellen Existenz bedroht. Sie haben entweder Angst vor einer Kündigung oder haben ihre Stelle bereits verloren und Mühe, eine neue zu finden. Betroffen sind Ärztinnen und Ärzte, Psychologen und Pfleger, aber auch Lehrpersonen. Sie alle haben - oder hatten - eine Stelle in den Kantonen Bern oder Solothurn.
«Jetzt reichts», sagen sich die Betroffenen und rufen für Donnerstag, den 28. April, zu einer Demonstration in Solothurn auf, mit der sie gegen Mobbing und Ausgrenzung auftreten wollen. Mit dabei sein werden an der Demo auch die Psychiater Kasia und Sebastian Weidenbach sowie Helena Gemmel. Sie arbeiteten alle drei während mehrerer Jahre als Assistenzärzte bei den Psychiatrischen Diensten der Solothurner Spitäler AG (soH) - bis ihre Verträge nicht mehr verlängert worden sind. Für Sebastian Weidenbach war im Februar 2010 Schluss, seine Frau verlor ihre Stelle Ende 2009, Helena Gemmel bereits Ende September 2009.
Faktisches Anstellungsverbot
Die Verbindung der drei Assistenzärzte zu Samuel Widmer sei der Klinik-Leitung bereits seit längerem bekannt gewesen, sagt Kasia Weidenbach. Die Stimmung ihnen gegenüber habe sich dann verschlechtert, als Ende 2008 erneut öffentlich thematisiert wurde, dass Widmer-Anhänger bei den Psychiatrischen Diensten angestellt sind. Sie seien zwar vorerst noch geduldet worden, schon bald aber sei sich die Leitung der Psychiatrischen Dienste einig geworden, ihre Verträge auslaufen zu lassen. «Ihr werdet in der ganzen Schweiz keine Stelle mehr finden», habe man ihnen zudem mit auf den Weg gegeben, so die 40-jährige Mutter von fünf Kindern. Und tatsächlich, sobald ein potenzieller Arbeitgeber bei der soH eine Referenz einholt, sinkt die Chance, angestellt zu werden, gegen null.
«Wir fühlen uns als Kriminelle abgestempelt», betont Kasia Weidenbach. Das, obwohl sie sich bei ihrer Tätigkeit in der Psychiatrischen Klinik immer korrekt verhalten hätten. «Wir haben nichts Falsches gemacht, das hat man uns auch immer so bestätigt.» Und Helena Gemmel meint: «Es geht um einen Meinungsstreit, bei dem die offizielle Psychiatrie ausschliesslich auf der Schulmeinung beharrt und keine Abweichung zulässt.» Seit ihrem Ausscheiden aus den Diensten der soH betreibt sie eine eigene psychiatrische Praxis - die Aufnahme in die kantonale psychiatrische Fachgesellschaft aber wurde ihr verweigert.
Die Solothurner Spitäler AG hält sich auf Anfrage bedeckt. Keine Erklärung gibts, weshalb die Verträge der drei «Kirschblütler» nicht mehr verlängert worden sind. «Dazu nehmen wir keine Stellung», sagt Heinz Kohler, Direktor der Psychiatrischen Dienste der soH. Und wie stehts mit einem faktischen Anstellungsverbot für Mitglieder der Kirschblütengemeinschaft? Kohler: «Wir fragen bei der Anstellung nicht nach, welchen privaten Aktivitäten jemand nachgeht.» Fakt ist, dass derzeit kein Widmer-Jünger bei den Psychiatrischen Diensten arbeitet.
Psychiatrie kritisiert Widmer
Auskunftsfreudiger ist Daniel Bielinski. Er ist Vizepräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) und war bis 2009 Chef der Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrischen Dienste der soH. «Das Gedankengut und die Praxis von Samuel Widmer sind mit den Wertvorstellungen und den geltenden Standesordnungen der Ärzteschaft nicht vereinbar», ist er überzeugt. Konkret macht Bielinski Widmer etwa zum Vorwurf, dass dieser und seine Anhänger in der Beziehung zu den Patienten nicht richtig mit der «Frage von Nähe und Distanz, Beziehung und Sexualität» umgingen. Rechtliche Verfahren oder gar Verurteilungen gebe es aber bis jetzt keine, muss Bielinski eingestehen. Aufgrund der Ideen von Widmer seien aber «Konflikte im Anstellungsverhältnis vorprogrammiert».
Die Gesellschaft der Ärztinnen und Ärzte des Kantons Solothurn (Gaeso) und auch das kantonale Gesundheitsamt betonen demgegenüber, dass weder gegen Widmer noch gegen einen seiner Anhänger irgendwelche Klagen oder Beschwerden vorliegen. «Wir kontrollieren die Arbeit von Samuel Widmer und die seiner Leute regelmässig und werden das auch weiterhin tun», sagt Heinrich Schwarz, Chef des Solothurner Gesundheitsamtes. Bis zu diesem Zeitpunkt hätten sich diese aber nichts zuschulden kommen lassen. «Es gibt keine einzige Klage gegen Widmer«, meint auch Florian Leupold, Co-Präsident der Gaeso.
Demo am 28. April in Solothurn. Um 16 Uhr erfolgt die Übergabe einer Petition an Regierungsrat Peter Gomm. Ab 16.30 Uhr bewegt sich der Zug durch die Innenstadt bis zum Bieltor und wieder zurück zum Märetplatz.