Kurz vor dem Jahreswechsel herrscht Hochkonjunktur bei den Vorsätzen. Mit dem Wissen, dass die meisten bei der Umsetzung scheitern. Die Solothurner Psychologin Yvik Adler erklärt das Phänomen und wie es zu umgehen ist.
Welchen Vorsatz haben sie sich persönlich für 2011 genommen?
Yvik Adler: Ich habe mir dieses Jahr keinen Vorsatz vorgenommen.
Warum nicht?
Ich habe mir beim vergangenen Jahreswechsel nach 17 Jahren Tätigkeit in psychiatrischen Institutionen Gedanken zu meiner Zukunft gemacht. Das gesetzte Ziel, in einer eigenen Praxis tätig zu sein, habe ich inzwischen realisieren können. Deshalb habe ich im Moment keinen Bedarf an neuen Vorsätzen.
Fast alle Menschen starten mit neuen Zielen ins neue Jahr. Was ist der Grund dafür?
Es geht darum, eine Jahresbilanz zu ziehen, was grundsätzlich ein positives Anliegen ist. Denn hinter den Vorsätzen steckt die Idee, sich zu verbessern, etwas Neues zu wagen oder einen Neubeginn zu starten. Das ist ein menschliches Grundbedürfnis. Es kann auch darum gehen, belastende Ereignisse im abgelaufenen Jahr hinter sich zu lassen und optimistisch das neue Jahr in Angriff zu nehmen.
Sind Vorsätze auch ein Weg, um aus Verhaltensmustern im Alltag auszubrechen?
Ja. Das macht viele Menschen unglücklich und sie wollen sich weiter entwickeln.
Welches ist die Hitparade der Vorsätze?
An der Spitze steht das Konsumverhalten, sei es Rauchen, Trinken oder Essen. Ebenfalls «beliebt» sind weniger Stress, mehr Sport und mehr Zeit für die Familie.
Warum werden Ziele gerade an Silvester gesetzt?
Das hat mit dem Ende des Jahres zu tun und ist eben ein idealer Zeitpunkt, um Bilanz zu ziehen. Zudem können die Vorsätze mit dem Stichtag Silvester nicht hinausgeschoben werden.
Wie meinen Sie das?
Es gilt die durch Studien abgestützte 72-Stunden-Regel. Das heisst, wenn ein Vorhaben nicht innerhalb dieser Zeit angepackt wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Ganze «versandet».
Wieso schafft es fast niemand, die Vorsätze auch umzusetzen?
Vielfach steckt man sich neue Ziele nur halbherzig, es fehlt ein glasklarer Entscheid. Oder es fehlt ein konkreter Plan mit Zieletappen, wie der Vorsatz erreicht werden kann. Ein anderer Grund ist, dass sich der Einzelne zu hohe Ziele steckt. Es ist deshalb wichtig, kleine Ziele ins Auge zu fassen. Entscheidend ist auch, sich vorgängig damit auseinanderzusetzen, warum will ich dieses und jenes ändern? Nur so ist die Motivation gross genug, die Ziele auch umzusetzen.
Gibt es Schnellschüsse aus dem Bauch heraus?
Ja, aber die sind alle zum Scheitern verurteilt. Es braucht nämlich zweierlei. Den konkreten, durchdachten Vorsatz und den massgeschneiderten Plan zu dessen Umsetzung.
Sind Vorsätze ein gutes und günstiges «Medikament» gegen das schlechte Gewissen?
Das kommt vor. Vorsätze mögen zwar ein «günstiges Heilmittel» sein, aber sicherlich kein gutes. Wer das Ziel nur halbherzig angeht, landet in der Frustration und die erwünschte Wirksamkeit des «Medikamentes» wird nicht erreicht.
Offensichtlich hat der heutige Mensch zu wenig Biss, um etwas durchzuziehen. Ist das auch eine Charakterfrage?
Biss ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Das Scheitern hängt vielmehr - wie erwähnt - mit der schlechten Planung und mit dem raschen Verlust der Motivation zusammen. Da spielt der Charakter tatsächlich eine Rolle. Ich bin aber überzeugt, dass mit Planung und ausreichender Unterstützung ihres Umfeldes die Menschen grundsätzlich in der Lage sind, gefasste Vorhaben umzusetzen.
Nehmen sich nur jene Menschen Vorsätze, die mit ihrem Leben nicht zufrieden sind?
So absolut ausgedrückt trifft das nicht zu. Es nehmen sich solche Menschen Vorsätze, die mit bestimmten Teilen ihres Lebens unzufrieden sind.
Schwindet das Selbstwertgefühl, wenn die Ziele regelmässig nicht erreicht werden?
Das nagt selbstverständlich am Selbstbewusstsein des Einzelnen. Der Mensch braucht Erfolgserlebnisse. Es ist aber wichtig zu wissen, dass es in der Regel fünf bis sechs Anläufe braucht, um einen Vorsatz umsetzen zu können. Und Rückschläge gehören ebenso wie Erfolge zum Prozess. Wer aber bereits im Voraus weiss, dass er scheitern wird, der sollte sich besser gar nichts vornehmen. Das sind dann reine Alibiübungen.
Was passiert im gegenteiligen Fall, wenn also das Vorhaben umgesetzt werden kann?
Das wirkt sofort positiv auf das Selbstwertgefühl. Das ist der Beweis, dass ich als Individuum mein Leben selbst gestalten und mich aus gefangenen Mustern befreien kann. Man fühlt sich einfach besser.
Was raten Sie, wenn jemand den Mut verliert?
Das hängt ab, wie gravierend das Problem ist. Bei Suchtproblemen geht es nicht ohne entsprechende Fachleute. In «leichteren» Fällen kann es nützlich sein, die eigenen Ansprüche etwas runter zu fahren und sich neu erreichbare Ziele zu setzen. Es lohnt sich auch die Überlegung, ob es nicht besser wäre, sich mit der Begebenheit zu arrangieren und lernen, damit umzugehen.
Wie wichtig ist der Spassfaktor?
Der Spassfaktor kann die Motivation zusätzlich stärken. Allerdings wäre die Vorstellung, dass alle Bemühungen auch noch Spass machen müssen, zu hoch gegriffen. Wenn ich einmal pro Woche in die Yogastunde gehe, macht mir das nicht wirklich Spass. Das gute Gefühl stellt sich erst nach dem Effort ein.
Ist es grundsätzlich sinnvoll, gute Vorsätze zu haben?
Ich empfehle meinen Klientinnen und Klienten keine Neujahrsvorsätze. Sie kommen ja zu mir in die Praxis, weil sie etwas in ihrem Leben verändern wollen und zwar unabhängig von Silvester. Die Ursache und die bisherige Bedeutung des Problems müssen vorgängig analysiert werden. Erst anschliessend folgt ein detaillierter Umsetzungsplan. Ohne das ist die Realisierung von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
Gehören Vorsätze zum Menschen?
Ich denke schon. Es gibt auch Menschen, die überhaupt keine Seiten bei sich sehen, die optimierbar wären. Das kann wiederum zu einem Problem für deren Umgebung werden. (lacht)