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Solothurn
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Noch wohnt die siebenköpfige syrische Familie Al-Mohamad in Erlinsbach SO. Sie müssen aber jederzeit damit rechnen, zurückgeschickt zu werden.
«Sie, Frau und Herr Al-Mohamad, und Ihre Kinder werden nicht als Flüchtlinge anerkannt werden können. Ihre Asylgesuche werden deshalb abgelehnt.» Diese beiden Sätze stellten das Leben der Familie Al-Mohamad komplett auf den Kopf — erneut. Das Schreiben des Staatssekretariats für Migration (SEM) traf kurz vor Weihnachten per Einschreiben ein. Seither leidet die fünffache Mutter Khaula Al-Mohamad unter Kopfschmerzen und Angstzuständen.
Hatte sich ihr Leben doch über die vergangenen eineinhalb Jahre etwas beruhigt, kommt nun wieder Panik auf: «Wir können nicht zurück nach Syrien», sagt Khaula leise auf Arabisch. Nachbarin Fadia Barghash — die Syrerin lebt seit vier Jahren in der Schweiz — übersetzt während des Gesprächs.
Ihre Flucht der Familie begann vor drei Jahren. Das Ehepaar Khaula und Mohamed verliess im Januar 2016 seine Heimat. Die syrische Stadt Raqqa — die al-Nusra-Front sowie der Islamische Staat (IS) kontrollierten das Gebiet — wurde zu gefährlich für die damals noch fünfköpfige Familie.
Mohamad musste jederzeit damit rechnen, entweder von der al-Nusra-Gruppierung oder vom IS zum Kämpfen gezwungen zu werden. Oder er hätte für die Regierungstruppen einrücken müssen. «Ich will nicht kämpfen. Das würde meinen Tod bedeuten», sagt der heute 23-Jährige. Seine Frau ergänzt: «Und was sollte ich dann machen, alleine mit den Kindern im Krieg?»
Die Familie floh in die Türkei, von dort mit einem überbesetzten Gummiboot nach Griechenland. Die heute 25-jährige Khaula war im sechsten Monat schwanger. Ein Jahr lang harrten sie im Flüchtlingscamp in Idomeni, an der Grenze zu Mazedonien, aus. Khaula brachte dort Tochter Amal zur Welt — im Juni 2016 in einem Campingzelt.
Im Februar 2017 durfte die Familie dann mit einer Einreisebewilligung in die Schweiz kommen. Im Empfangs- und Verfahrenszentrum in Altstetten ZH wurden sie registriert, danach teilte man sie dem Kanton Solothurn zu. Vier Monate später wurden sie vom SEM zu ihren Asylgründen befragt: Seither sind eineinhalb Jahre vergangen, bis der Brief des SEM eintraf.
In Erlinsbach SO wohnen die Al-Mohamads in einer Dachwohnung am Dorfrand. Ihr Zuhause ist spartanisch und zweckmässig eingerichtet. Der Fernseher läuft, er zeigt Bilder aus der Heimat Syrien. In arabischer Schrift werden die neusten Entwicklungen am unteren Bildrand eingeblendet.
Die sechsjährige Tochter Rahaf sitzt auf einem schwarzen, abgewetzten Ledersessel und beschäftigt sich lieber mit einem Smartphone, als sich die Bilder von zerstörten Häusern, Rauch und Soldaten anzuschauen.
Rahaf kam zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Yazan in Raqqa zur Welt. Während sich ihr Bruder normal entwickelte, kämpft sie seit ihrer Geburt mit Beeinträchtigungen: Sie ist taub, stark seh- und gehbehindert. Dass sie für das Foto ihren Sessel verlassen musste, brachte sie durcheinander. Einige Tränen flossen, bevor Vater Mohamad seine Tochter beruhigen konnte.
Die Kinder sind glücklich in Erlinsbach. Das älteste Mädchen Abir geht in die erste Primarklasse. «Ich gehe gerne zur Schule», sagt die Siebenjährige schüchtern. Und Yazan besucht den Kindergarten im Dorf.
Mutter Khaula bleibt mit der zweijährigen Amal und dem acht Monate alten Omar zu Hause. Mohamad kann drei Mal pro Woche einen Deutschkurs besuchen. In der übrigen Zeit kümmert er sich um Rahaf: «Wir haben mehrere Termine pro Woche, zu der wir sie bringen müssen.» Dazu gehören Arztbesuche, Physiotherapie und eine Spielgruppe für Kinder mit Beeinträchtigungen.
Das SEM begründet den negativen Asylentscheid im Brief an die Familie wie folgt: Die Asylgründe der Familie — der Gesundheitszustand der Tochter, negative Erlebnisse der Mutter, «die stetigen Bombardierungen» in der Heimat und die Angst vor der Einberufung ins Militär — würden den Anforderungen an die Flüchtlingseigenschaft nicht standhalten (siehe Box).
Flüchtlinge sind laut Asylgesetz Personen, «die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden». Das SEM beurteilt, ob eine Person eine oder mehrere dieser Eigenschaften erfüllt. (SIL)
Die Nachteile, die die Familie in Syrien erlebt habe, seien auf «die zurzeit herrschende Situation und allgemein gegenwärtige Gewalt in Syrien zurückzuführen». Sie stellten aber keine Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes dar.
Vorläufig gewährt das SEM der Familie Al-Mohamad Asyl. SEM-Sprecher Jonas Schmid kann sich zum vorliegenden Fall aus Datenschutzgründen nicht äussern. Er erklärt aber allgemein: «Das SEM prüft periodisch, ob die Voraussetzungen für die Verfügung der vorläufigen Aufnahme noch gegeben sind. Ist dies nicht mehr der Fall, wird die Verfügung aufgehoben.»
Das heisst: Sobald sich die Situation in Syrien beruhigt hat, schickt die Schweiz die Familie Al-Mohamad — und viele weitere syrische Staatsangehörige, die hier leben — zurück in ihr Heimatland. Dass sie sich bis dahin in ihrem neuen Zuhause eingelebt und integriert haben, hat keinen Einfluss auf den Entscheid: «Ob jemand Anspruch auf Asyl hat oder nicht, erfolgt unabhängig davon, ob jemand in der Schweiz integriert ist. Den Anspruch auf ‹Asyl› kann man sich also nicht durch Integration ‹verdienen›», so Schmid.
Für Khaula und Mohamad Al-Mohamad ist die Unsicherheit erdrückend. «Zurück können wir auf keinen Fall», sagt Mohamad. Er hofft weiterhin, irgendwann die definitive Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz zu bekommen. Für seine Kinder wünscht er sich eine «sichere Zukunft». Und die könnten sie nur in der Schweiz haben.