Die Demokratie ist von der Bevölkerung abhängig: Wenn nicht mitgemacht wird, funktioniert die Demokratie nicht. Das ist auch in Niedergösgen der Fall.
Das Gemeinde-Wahljahr 2017 hat im Niederamt seinen Eklat: den Ausfall einer echten Wahl für den Gemeinderat von Niedergösgen. Die CVP hat eine Liste mit 9 Kandidatinnen und Kandidaten eingereicht – und die sind nun alle als Gemeinderäte für die nächsten vier Jahre gewählt, weil keine anderen Listen eingegangen sind.
Solche stillen Wahlen sind akzeptabel in Gemeinden wie Rohr, Hauenstein-Ifenthal, Wisen oder Kienberg, denn bei 100 bis 600 Einwohnern steckt schon viel Aufwand dahinter, dass sich überhaupt fünf Freiwillige für die Arbeit im Gemeinderat finden. Doch das gilt nicht für Niedergösgen. Das Dorf hat rund 3900 Einwohner, ist damit nach Trimbach die zweitgrösste Gemeinde des Bezirks Gösgen, mit ausgedehntem Wohngebiet, Industrie und Zentrumsdienstleistungen.
Ausserdem hat Niedergösgen eine lebendige politische Tradition. Aus dem Umfeld einer jahrzehntelangen Rivalität von CVP und Freisinnigen im Dorf ging einst der Solothurner Regierungsrat Alfred Wyser (1922–2010) hervor.
Die Würze steuerte oft eine kämpferische SP bei. So startete vor 40 Jahren Walter Steinmann, der spätere Solothurner Wirtschaftsförderer und Direktor des Bundesamts für Energie, seine Karriere als 26-jähriger Gemeinderat in Niedergösgen. In jüngster Zeit stösst hier die SVP auf Widerhall, sie wurde bei den Nationalratswahlen 2015 klar stärkste und bei den jüngsten Kantonsratswahlen zweitstärkste Partei.
Niedergösgen ist also nicht eine stille «Landgemeinde», es ist ein Ort mit vielfältiger Bevölkerung und breitem Meinungsspektrum. Hier braucht es Auseinandersetzung und demokratische Entscheidungsfindung. Dass jetzt nur eine einzige Liste für den Gemeinderat eingereicht wurde, ist darum nicht nur ein Schönheitsfehler.
Der Niedergösger Gemeinderat mit jetzt noch 11, ab Herbst dann 9 Mitgliedern hat noch ein Stück vom Charakter eines Dorfparlaments bewahrt. Das gäbe die Chance, nicht nur effizient zu verwalten, sondern auch politisch zu diskutieren und zu ringen. Doch ein Einparteienparlament, wie Niedergösgen es für die kommenden vier Jahre haben wird, ist ein Widerspruch in sich.
Erst recht zu einer Kapitulation der Demokratie werden die stillen Wahlen nach der Vorgeschichte vor gut einem Jahr. Zu Beginn der Amtsperiode 2013–2017 stand die CVP als Partei des Gemeindepräsidenten mit fünf Gemeinderäten einer «Opposition» von sechs Ratsmitgliedern aus FDP, SVP und SP gegenüber, der es mit der knappen Stimmenmehrheit von 6:5 mehrmals gelang, sich durchzusetzen, obwohl die CVP-Räte offenbar meist als Block auftraten.
Doch vor einem Jahr warfen die drei Gemeinderäte von SVP und SP Anfang 2016 das Handtuch und traten aus dem Niedergösger Gemeinderat aus. Sie sei nicht rechtzeitig, nicht vollständig oder nicht der Wahrheit entsprechend informiert worden, erklärte die zurückgetretene SP-Gemeinderätin Mara Moser damals unter anderem; Kritiker im Rat seien unsachlich und respektlos angegriffen worden. Die beiden SVP-Gemeinderäte wollten sich zu ihren Gründen merkwürdigerweise überhaupt nicht öffentlich äussern.
Tatsache ist, dass SP und SVP keine Ersatzmitglieder in den Rat schickten. Zurück blieben die drei FDP-Gemeinderäte, die sich dadurch für den Rest der Amtsperiode plötzlich zu machtlosen Juniorpartnern der CVP degradiert sahen.
Neue und klare Verhältnisse schaffen konnten nur die Wahlen. Die Wahlen geben den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern die Möglichkeit, den Streit der Parteien zu entscheiden und mit dem Wahlzettel die Kräfteverhältnisse für vier Jahre festzulegen. Das ist die Theorie der Demokratie – doch sie hat in Niedergösgen nicht funktioniert.
Warum nicht? Man kann Kurt Henzmann und der CVP in Niedergösgen vorwerfen, was man will – aber sie haben in diesen Wahlen ihre Pflicht erfüllt und eine volle Gemeinderatsliste auf die Beine gestellt.
Versagt haben dagegen FDP, SP und SVP: Wer keine Kandidaten stellt und nicht bereit ist, seinen Teil an die Führung der Gemeinde beizutragen, verliert das moralische Recht, die andern zu kritisieren. Vielleicht waren ihre Vorwürfe ganz oder teilweise berechtigt, aber sie haben dem obersten Schiedsrichter in der Demokratie – dem Wahlvolk – die Möglichkeit vorenthalten, sein Urteil zu sprechen. «Les absents ont toujours tort», heisst es – wer nicht dabei ist, wer nicht mitmacht, hat unrecht.
Die angesprochenen Parteipräsidenten sagen, sie hätten Kandidaten gesucht, aber zu wenige gefunden. Dass es in den letzten Jahren immer schwieriger geworden ist, Männer und Frauen zu einem Engagement in Gemeindeämtern zu gewinnen, trifft nicht nur in Niedergösgen zu, sondern in den meisten Gemeinden der Region. Ob Präsidenten und Vorstandsmitglieder der Niedergösger «Oppositionsparteien» die richtigen Leute gefragt und intensiv genug gesucht haben, sei dahingestellt: Richtig ist, dass die Schuld nicht ausschliesslich ihnen angelastet werden kann.
Wer jetzt in Niedergösgen enttäuscht ist, dass er oder sie am 21. Mai keinen Gemeinderat wählen kann, muss sich die Frage stellen: Warum habe ich mich nicht selbst für eine Kandidatur gemeldet? Das Fiasko der Gemeinderatswahl 2017 müsste in Niedergösgen etwas auslösen. Nehmen wir als Beispiel die SVP: Es kann doch nicht sein, dass bei den Kantonsratswahlen am 12. März ein Viertel der Stimmenden die SVP wählen – aber dann bis zum Anmeldeschluss für die Gemeinderatswahlen, zwei Wochen später, niemand bereit ist, auf einer SVP-Liste für den Gemeinderat zu kandidieren.
Das Entsprechende gilt für die freisinnigen (19 Prozent) und die sozialdemokratischen (14 Prozent) Wählerinnen und Wähler. Und wenn sich niemand in den bestehenden Parteien engagieren will, bleibt nur ein einziger logischer Schluss: In Niedergösgen ist es Zeit, eine neue Partei zu gründen – eine «Pro Niedergösgen», «IG Niedergösgen», «Freie Liste» oder «Fokus Niedergösgen», um ein paar Namen von Gruppierungen aus umliegenden Niederämter Dörfern wie Däniken, Walterswil, Lostorf oder Gretzenbach zu zitieren.
Das Beispiel Niedergösgen muss aufschrecken. Demokratie lebt von der Beteiligung. Demokratie ist bei uns entstanden, weil im 19. Jahrhundert Dutzende, Hunderte, vielleicht Tausende von Solothurnern dafür eintraten, sie müssten und wollten auch politisch mitentscheiden, nicht nur die Patrizier der Hauptstadt.
Ebenso ist das Frauenstimmrecht Wirklichkeit geworden, weil Dutzende und Hunderte von Solothurnerinnen die gleichen politischen Rechte für die Frauen forderten und zur Mitarbeit bereit waren. «Gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht», steht in der Präambel unserer Bundesverfassung. Wer sich beteiligt, arbeitet mit am Erhalt unserer Demokratie und Freiheit. Wer sich nicht beteiligt, trägt sie zu Grabe.