«Das Wort ‹Stress› gab es noch nicht»

Die lebenserfahrene Elsbeth Häubi aus Lostorf plädiert für mehr Wertschätzung gegenüber Leuten, die schmutzige Arbeit erledigen.

Interview: Lorenz Degen
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Elsbeth Häubi sagt zur Coronapandemie: «Ich wäre für eine Durchseuchung».

Elsbeth Häubi sagt zur Coronapandemie: «Ich wäre für eine Durchseuchung».

Bild: Bruno Kissling

Die Lostorferin Elsbeth Häubi ist als Puppenspielerin in der Region bekannt. Vor einigen Jahren hat die 87-Jährige mit dem Buch «Brave Mädchen fragen nicht» ihre Erinnerungen veröffentlicht. Die Begegnung mit einem «Engel», so Häubi, war für sie ein besonderes Ereignis.

Frau Häubi, was haben Sie vergangene Woche erlebt?

Elsbeth Häubi: Mich rettete vergangene Woche ein Engel der ganz besonderen Art: Der Kanalräumer, der unter grossem Stress steht. Warum? Rund 60 Notrufe hageln täglich auf ihn ein. Überall sollte er gleichzeitig sein; denn wer will schon in der Gülle stehen? Da ist plötzlich die Hauskanalisation verstopft, das Wasser läuft aus den Abflüssen zurück. Die Badewanne füllt sich mit Fäkalien. Das ist grauslich, auch wenn es das eigene Produkt ist. Noch viel schlimmer wird es, wenn das Unsagbare vom Nachbar hochkommt. Peinlichkeiten steigen da ans Tageslicht: Kondome, Feuchttücher, Slip-Einlagen, neuerdings auch Masken – alles verbunden durch eine cremige Sauce aus Fäkalien und dem vielen WC-Papier, das tonnenweise gehortet worden ist. Welche Erlösung ist es da, wenn der Engel der Abwasserkanäle vorfährt mit seinen Spezialwagen.

Was geschah bei Ihnen?

Es war eiskalt und der offene Kontrollschacht, randvoll mit Unappetitlichkeiten, drohte einzufrieren und die ohnehin schon prekäre Situation in eine Katastrophe zu verwandeln: Das Wasser dehnt sich beim Einfrieren aus und die Ablaufröhren zerplatzen. Kommt Tauwetter, herrscht keine Freude. Es dauerte lange, bis der Schacht so weit frei war, dass man die Ursache des Übel sehen konnte: Baumwurzeln bis weit in die Strasse hinein. Der Kanalengel musste am nächsten Tag mit einer Spezialfräse nochmals kommen, um die Wurzeln weg zu sägen. Eine Rohrsanierung wird nötig sein. Doch für den Moment kann wieder ohne Gefahr, sich der ausgeschiedenen Verdauungsreste nicht entledigen zu können, gespült werden. Halleluja!

Warum erzählen Sie uns das?

Weil der Engel meiner Kanalisation ebenso wie die Engel mit den schweren Schuhen auf den Bauplätzen und die Elektro- und Sanitärinstallateure, die ich letzthin dringend brauchte, alle über Stress klagten, weil sie viel zu wenig gute Mitarbeiter fänden! Stellen seien monatelang ausgeschrieben. Meldet sich endlich jemand, steht meist nur ein Männlein oder Fräulein da, das dringend einen Job sucht, aber keine Arbeit, die schmutzige Hände macht. An solchen fussfesten Engeln herrscht grosser Mangel.

Haben Sie das in Ihrem Berufsleben auch erlebt?

Ich war vor meiner Pensionierung auch einer von ihnen. Als diplomierte Krankenschwester (Anm. der Redaktion: heute Pflegefachfrau) arbeitete ich in jungen Jahren im Kantonsspital Liestal in zwei Schichten noch 12 Stunden pro Einsatz mit einer Stunde Mittagspause und anderthalb freien Tagen pro Woche für einen Monatslohn von dreihundert Franken. Da lag kein Privatleben drin. Nach Arbeitsschluss sank man todmüde, meist ungewaschen, ins Bett. Aber ich empfand bei meiner Arbeit wirklich noch etwas Schwesterliches und Engelhaftes, eben – Engel der Kranken. Auch Ärzten ging es ähnlich. Da traf man oft auf der Nachtwache unerwartet ein belegtes Bett an: Darin schnarchte der Chefarzt, weil er nach der letzten Operation zu müde war, um noch heimzufahren. Auch erhielt er damals noch keinen sechsstelligen Lohn, wie es heute üblich und scheinbar immer noch zu wenig ist. Das Wort ‹Stress› gab es noch nicht. Wir hatten es einfach ‹streng›.

Und wie sehen Sie die Situation heute?

Jetzt höre ich in den Nachrichten, die Zahl der Arbeitslosen sei wieder gestiegen! Dennoch haben viele Betriebe Mühe, gute Mitarbeiter zu finden – Engel, die in Schuhen laufen und nicht nur mit Flügeln schweben wollen. Vielleicht beginnt das Problem schon im Säuglingsalter: Meine Generation lag noch eng eingewickelt stundenlang mit rotem Hintern in nassen und voll gekackten, kratzenden, steifen Windeln, da nützte alles Schreien nichts. Die gestrickten Wollsachen bissen. Wir lernten aushalten. Und wir hielten es aus, denn sonst wäre ich nicht mehr am Leben. Heute haben die Kleinkinder Pampers an. Da spürt man nichts, selbst wenn man schon dreimal ‹gepisst› hat. Die Kleider sind kuschelig und weich. Wie soll man da lernen, das spätere harte Leben auszuhalten?

Sie haben eine lange Lebenserfahrung. Was raten Sie uns Nachgeborenen?

Als Kind und Jugendliche habe ich im Zweiten Weltkrieg selber Angst, Not, Hunger, Verlust und Elend erlebt. Da nützte kein Weinen und Jammern, nur der Spruch meiner Grossmutter: «Was dich nicht umbringt, macht dich stark!» Das möchte ich auch den heutigen jungen Menschen mitgeben, wenn nicht alles so weich läuft, wie sie es gerne hätten. Man kann auch mit harter Arbeit glücklich werden und muss nicht gleich an Schwierigkeiten zerbrechen. Und das meiste Handwerk hat goldenen Boden und ist nützlich und notwendig. Ich freue mich, dass ich in meinem Alter immer wieder einem Kern von tapferen, tüchtigen, klugen, gut ausgebildeten, belastbaren jungen Menschen begegne. Und ich bitte die geflügelten Engelswesen und das Arbeitsamt, sie mögen diesem guten Kern von tapferen Menschen auch mehr gute und belastbare, zuverlässige Mitarbeiter zuführen, damit sie nicht allzu sehr gestresst werden.

Wie gehen Sie mit der Coronapandemie um?

Also für mich ist das nicht das Schlimmste. Ich habe so viele gesundheitliche Baustellen, da wäre Corona nicht das Schlimmste, auch wenn ich sterben würde. Ich wäre von vielen Leiden erlöst. Schlimm ist das Isoliertsein. Man vereinsamt seither und muss auf vieles verzichten, was man geniessen konnte, sofern man noch geistig ansprechbar war. Das finde ich sehr traurig. Ich muss auch zuschauen, wie viel jüngere Leute an ihrer Berufsausübung verhindert sind und leiden.

Haben Sie schon Ähnliches durchgemacht?

Ich habe schon etliche Seuchen erlebt, vor allem Typhus in Wien 1945. Die ganze Stadt war betroffen. Wir hatten kein WC-Papier und kaum zu essen. Zum Teil mussten mehrere Familie in einer Wohnung leben, weil Häuser durch Bomben zerstört oder von den Russen beschlagnahmt wurden. Alle, mit denen ich zusammenlebte, hatten Typhus. Einige überlebten, einige starben. Nur etwas Mehlsuppe hatten wir, und kein Wasser, weil die Leitungen kaputt waren. Die ganze Wohnung roch nach Fäkalien. Wir hatten nur Lappen zum Abputzen, nicht einmal Zeitungspapier.

Was wäre gegen die Pandemie zu tun?

Ich wäre für eine Durchseuchung, dann würden die meisten immun, die anderen sterben halt. An Rauchen, Krebs, Herzinfarkt und Autounfällen sterben mehr Leute. Ich schaue das relativ an. Ich halte aber fest: Das ist meine Meinung, die möchte ich niemandem aufdrängen. Freiwilliges Impfen ist gut: Wer das will, soll es tun. Ich fürchte vor allem die wirtschaftlichen Folgen. Man kann nicht Milliarden an Geld drucken und das Geld behält den Wert trotzdem. Eine grosse Inflation könnte kommen, weil so viel Geld ausgegeben wird, das gar nicht gedeckt ist.