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Neun Jahre nach der offiziellen Schliessung ist Lothar Kind der letzte Angestellte der ehemaligen Cellulosefabrik Attisholz. Ende Monat löscht auch er das Licht und beendet 136 Jahre Solothurner Industriegeschichte.
Es gab einen Moment, da zögerte Lothar Kind. Es war im Herbst 2008, die Zellulosefabrik Attisholz schloss ihre Tore und 450 Arbeiter standen auf der Strasse. Auch Kind, der gerade dabei war, in Solothurn ein Haus zu bauen. Sollte er das Angebot annehmen? «Du ruinierst Deine Zukunft», warnten ihn Bekannte. Die norwegische Attisholz-Besitzerin suchte einen Mann, der den Betrieb geordnet runterfährt. Kind wusste nicht, was ihn erwartet. Doch der promovierte Chemiker griff zu. Geblieben ist er bis heute. Aus Lothar Kind, dem Chemiker, Geschäftsleitungsmitglied und Qualitätsmanagement-Verantwortlichen der Cellulose Attisholz ist in dieser Zeit ein Händler, Verhandler und Arealentwickler geworden. Er musste sich in Geschäftsfelder reindenken, von denen er zuvor keine Ahnung hatte.
Juni 2017. Die Arbeit ist abgeschlossen. Von seinem Fenster aus blickt Kind auf die ehemaligen Industriegebäude. Die Maschinen sind längst stillgelegt und in die ganze Welt verschwunden, die Arbeiter sind weg. «Ich bin tatsächlich der letzte Angestellte der Attisholz AG», sagt der 50-Jährige. Er strebte dies nicht an. Es kam einfach so.
Ein Ende in ein paar Jahren? Nein, es herrschte Aufbruchstimmung, als der gebürtige Liechtensteiner im November 1997 ins Attisholz kam. Man wusste, dass die besten Zeiten der Basisindustrie in der Schweiz vielleicht vorbei sind. Aber man war daran, neue Geschäftsperspektiven zu finden. Der promovierte Chemiker wurde eingestellt, um neue Produkte für die 1881 gegründete Firma zu entwickeln. 1999 wurden nochmals 140 Mio. Franken investiert. «Man hat geglaubt, dass es gut kommt, und wir waren auch gut unterwegs», sagt Kind. Und schliesslich war es in der Vergangenheit noch immer gut gekommen, auch wenn die Zeiten nun turbulent waren: Auf die Übernahme durch Christoph Blochers Emesta folgte 2002 der Kauf durch die Borregaard. Selbst als im Sommer 2008 die Betriebsschliessung als mögliches Szenario auf den Tisch der Geschäftsleitung gekommen sei, «haben wir dies nicht als Szenario angeschaut, mit dem man jetzt rechnen muss», erzählt Kind.
Das Ende kam doch. Und rasch. Im Herbst 2008 stand der Schliessungsentscheid fest. Auch Geschäftsleitungsmitglied Kind war überrumpelt und überwältigt. «Eine Wahnsinnslawine kommt da in Gang. Die Zukunftsängste wirken sich auf die Arbeitsleistung aus. Es gab plötzlich Fehler und Betriebsunfälle, die wir vorher nicht hatten.»
Kind war überzeugt, «dass ich wie alle 450 anderen auf Jobsuche gehe». Doch es kam eben anders. Vorerst war er mit einem Team von 45 Personen für die technische Stilllegung der Anlagen und zwei Jahre lang für das Weiterführen der Elektrolyse verantwortlich. «Diese Jahre waren vergangenheitsorientiert», sagt Kind. «Auf ein mit Ungewissheiten verknüpftes Ende zuzuarbeiten, macht etwas mit den Leuten. Es ist sehr belastend und fordert alle bis ans Limit.» Und auch wenn das Team die technische Stilllegung problemlos bewältigte, lernte Lothar Kind schnell: «Du kannst einen noch so guten Job machen, es klopft dir niemand auf die Schulter. Es sind ja 450 Leute entlassen worden. Da ist nichts Gutes dran.»
Im Oktober 2010 schliesst auch die Elektrolyse. Alle Produktionsjobs sind jetzt weg. «Wir haben am einen Tag abgestellt und die industrielle Existenzberechtigung verloren. Am nächsten Tag sind wir als Grussgrundbesitzer aufgewacht.» 100 Hektaren gross war das Gebiet. Lothar Kind begab sich wieder auf einen Weg, bei dem er nicht wusste, wo er hinführt. Kind musste jetzt eine Lösung für das Areal finden. Dafür aber war es zuerst notwendig, das Bewusstsein zu schaffen, dass das Areal Potenzial hat und nicht einfach eine Industriebrache ist. Der Chemiker lernte schnell, dass es half, offen zu sein für Neues, und dass alte Denkmuster zurückgelassen werden müssen. Um das Areal für einen Käufer attraktiver zu machen, wurde es verkleinert: Den Südteil verkaufte man in mehreren Schritten, mehrheitlich an den Kanton. Und im Norden wurden alle Anlagen entfernt, um die Umnutzung zu vereinfachen.
Auf dem Tisch hinter Lothar Kind liegen norwegische Lakritzetäfeli, hergestellt vom Orkla-Konzern, dem das Attisholz gehörte. «Die Täfeli haben meinen Lohn querfinanziert, als wir hier Verluste machten», sagt Kind mit einem Augenzwinkern. Dem norwegischen Konzern windet er ein grosses Kränzchen. Es hatte mehrere Kaufangebote für das Areal gegeben. Doch Orkla verzichtete auf das schnelle Geld. Es wurde, im Gegenteil, ins Areal investiert. Aus der Industrieruine sollte wieder etwas Werthaltiges werden, das auch der Region etwas bringt. Es gab eine Testplanung über das Gelände, Kind war nun auch Arealentwickler und er verhandelte mit der Gemeinde und dem Kanton. «Wir mussten lernen, Geduld zu haben und Akzeptanz zu schaffen.»
Es entstand ein Projekt für einen vielfältig genutzten Dorfteil mit Wohnen, Arbeiten, Kultur und Gastronomie – und einer öffentlich zugängliche Aare. «Wir haben das Fundament gelegt und einen Weg aufgezeigt, den man zu Ende gehen kann», sagt Kind, der inzwischen schweizerisch-liechtensteinischer Doppelbürger ist. Dass die neue Besitzerin, die Halter AG, die Pläne überarbeitet, stört Kind nicht. Er findet es sogar richtig. «Sie sind die Spezialisten. Wir haben nur einen möglichen Weg aufgezeigt.»
Am 23. Juli 2014 feierte Lothar Kind nicht daheim seinen Geburtstag, sondern sass in der Gemeindeversammlung Riedholz und war glücklich, dass diese das Teilleitbild Attisholz annehmen. «Das war die Grundlage für die Arealentwicklung.» Für Kind war damit ein wesentlicher Teil seiner Arbeit abgeschlossen. Das Areal konnte verkauft werden.
Damit neigte sich die Zeit von Lothar Kind dem Ende zu. Jetzt, Ende Monat, ist sein Job definitiv erledigt: Südlich der Aare baut Biogen, nördlich ist die Industriebrache zum Anziehungspunkt für Fotografen und Künstler geworden und öffnet sich langsam für die Öffentlichkeit. Das Archiv ist inzwischen in sichere Hände übergeben worden, das Areal ist in guten Händen, für das Team ist gesorgt und auf dem ehemaligen Gelände wird ein neues Quartier entstehen. Und auf der ganzen Welt arbeiten die Maschinen der Attisholz weiter: In Irland, in den USA, in Rumänien, Indien, Pakistan und Bulgarien ebenso wie in Deutschland, Österreich, Mexiko und Italien.
Lothar Kind wird noch die AG in den Ruhezustand versetzen. Und dann wird sich auch der letzte Attishölzler eine neue Stelle suchen. «Erstmals seit acht Jahren habe ich die Freiheit, dass ich gehen kann», sagt er. «In den letzten acht Jahren hätte ich nicht loslassen können, weil es hier noch nicht fertig war.» Lothar Kind zweifelt heute nicht mehr, ob es damals richtig war, den Job anzunehmen. «Es ist der spannendste und vielseitigste Job, den ich mir vorstellen konnte», blickt er zurück.