Amtsgericht
Stahlwerk Gerlafingen: Verunfallter Giesser verliert gegen Arbeitgeber – und muss bezahlen

Wer ist Schuld am Arbeitsunfall vor 14 Jahren? Das Stahlwerk Gerlafingen – sagt der verunfallte Giesser, und fordert eine Entschädigung. Nun muss dieser selber blechen, weil die angeklagte Firma mit dem Gegenteil überzeugt hat.

Noëlle Karpf
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Im Stahlwerk Gerlafingen geschah der Unfall. fg

Im Stahlwerk Gerlafingen geschah der Unfall. fg

Felix Gerber

März 2003: Emilijan Babić* arbeitet als Giesser in der Stahl Gerlafingen AG. Er soll eine Anlage reinigen. Über der Abflussrinne liegt noch ein Schienenstück. Mit einer Kette wird es an den Kran gehängt, der Kranführer zieht das Stück hoch. Und dann passiert es: Das Schienenstück schwenkt aus, verkeilt sich, rutscht aus der Kette und trifft Babić am Kopf.
Er sei durch die Luft geschleudert worden, auf scharfem Eisen gelandet und habe schliesslich im Koma gelegen, schildert dieser. «Wenn ich keinen Helm getragen hätte, wäre ich jetzt wohl tot», sagt der 56-Jährige vor dem Amtsgericht Bucheggberg Wasseramt. Er will Geld von seiner ehemaligen Arbeitgeberin. Als Entschädigung.

Nach dem Unfall wurde dem gebürtigen Kroaten gekündigt. Er bezog Taggelder von der IV, welche ihre Zahlungen 2007 aber einstellte. Dagegen half auch eine Beschwerde nicht: Babić blitzte zuerst vor dem Solothurner Versicherungsgericht und schliesslich vor Bundesgericht ab. Einen neuen Job hat er bis heute nicht gefunden. Nun soll das Stahlwerk Babić für die Jahre seit 2007 30 000 Franken Entschädigung zahlen.

Ängste und Kopfschmerzen

Als ihn den Richter fragt, wie es ihm denn heute gehe, beginnt der grossgewachsene, stämmige Kroate zu weinen. Nach zwei Operationen am Kiefer, Medikamenten und Therapien habe er immer noch dauerhafte Kopf-Schmerzen, Ängste und Depressionen. Nach seiner Kündigung habe er keine neue Stelle gefunden. «Firmen wollen nur gesunde Leute anstellen», so Babić. Das sei alles die Schuld des Stahlwerks.

Rechtsanwalt Christian Jäggi erklärt, das Stahlwerk habe die Sorgfaltspflicht gegenüber dem damaligen Mitarbeiter Babić verletzt. Dieser habe als Reinigungskraft keine genauen Anweisungen zur Arbeit an der Anlage gehabt, und sei nicht ausreichend betreut worden.

Invalidität nur «vorgespielt»

Die Stahlwerk Gerlafingen AG hingegen, vertreten durch Rechtsanwalt Alain Pfulg, weist jede Schuld von sich. Der Beschuldigte sei bei der Arbeit zu wenig vorsichtig gewesen. Er habe auf «leichtsinnige» Weise die Vorschriften verletzt, die «jedem vernünftigen Menschen» bewusst seien. Es sei klar gewesen, dass sich in der Gefahrenzone unterhalb des Kranes kein Mitarbeiter aufzuhalten habe. Zudem seien die Verletzungen nach dem Unfall relativ harmlos gewesen und wieder verheilt. «Der Kläger hat kein Recht darauf, in dieser Opferrolle zu verharren, nur damit die Beklagte Busse tun muss», so Pfulg. Babić spiele seine Invalidität nur vor. Er habe sich halt nicht genug um einen neuen Job bemüht – dafür könne das Stahlwerk auch nichts.

«Ich erinnere mich nicht mehr»

Auf fast 30 Seiten hielt Babićs Anwalt Jäggi die Anklage fest, in einem ähnlichem Umfang gab das Stahlwerk mit Rechtsanwalt Pfulg Antwort darauf, dazu kommen 17 weitere Seiten Urkunden, Rapporte und Arztzeugnisse. Während des mehrtägigen Verfahrens befragte Gerichtspräsident Stefan Altermatt zudem acht Zeugen.

Nicht alle sprachen Deutsch, weshalb eine Dolmetscherin übersetzte, was die Verhandlung zusätzlich in die Länge zog. Wer hat das Schienenstück befestigt? An wie vielen Ketten hing es? Wer gab dem Kranführer das Zeichen, das Schienenstück hochzuziehen? Stand Babić zu diesem Zeitpunkt in der Gefahrenzone? Diese Fragen beantworteten die Zeugen ganz unterschiedlich, teilweise widersprachen sie sich auch selbst. Eines sagten aber alle Zeugen: «Ich erinnere mich nicht mehr daran».

Das Gericht beriet nach der Verhandlung über das Urteil und verschickte dieses einige Wochen später. Die Klage wird abgewiesen heisst es, Babić erhält keine Entschädigung. Mehr noch: Er muss dem Stahlwerk rund 23'500 Franken zahlen. Weil der Kläger unentgeltliche Rechtspflege erhält, zahlt der Kanton die Entschädigung für den Anwalt Jäggi – sollte Babić in den nächsten 10 Jahren genug Geld haben, um diese zusätzlichen rund 14'000 Franken zurück zu zahlen, muss er dies tun.

*Name von der Redaktion geändert