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Der Solothurner Urs Jaeggi (85) schrieb ein Buch, das die 68er-Generation mitprägte. Er gewann Literaturpreise und fing an, Kunst zu machen. Zeit seines Lebens kämpft er gegen soziale Ungleichheit.
Seinen Solothurner Dialekt hat Urs Jaeggi auch nach Jahrzehnten in Deutschland nicht verlernt. Er ist ein grossgewachsener, stets schwarz gekleideter Mann. Selbst öffnet er die Türe seiner Wohnung in Berlin-Charlottenburg. Urs Jaeggi, eben 85 geworden, hat viel zu erzählen. Der Schriftsteller, Soziologieprofessor und bildende Künstler, 1931 in Solothurn geboren, blickt auf ein ungewöhnliches Leben zurück. Er forscht, schreibt, zeichnet – und kämpft gegen soziale Ungleichheit.
Bekanntheit erlangte der Sohn eines SP-Politikers Ende der 1960er Jahre. In seinem Buch «Macht und Herrschaft in der BRD», seiner Antrittsvorlesung als Professor in Bochum, analysierte Jaeggi die Machtverhältnisse in Westdeutschland. Er ortete Defizite in der Mitbestimmung breiter Schichten und fand die Macht in der Hand weniger, die meist aus gut gebildeten Familien kamen. Mehr als 10 000 Exemplare des Buches wollte der Verlag damals nicht drucken. Am Ende wurden über 400 000 Bücher verkauft. Doch bei diesem Erfolg blieb es nicht: Noch während er an der Freien Universität Berlin lehrte, schrieb Jaeggi, der sich auf dem zweiten Bildungsweg vom Banklehrling zum Professor hochgearbeitet hatte, einen preisgekrönten Roman. Nach seiner Uni-Karriere wurde er in den Neunziger Jahren bildender Künstler. Ein Gespräch mit einem, der seinen Weg ging und dafür links und rechts aneckte.
Urs Jaeggi, ein Obdachloser wird – wohl zu Unrecht – des Mordes verdächtigt und nimmt sich im Gefängnis das Leben. Ein junger Mann begeht Suizid, weil er seine Homosexualität nicht ausleben kann. So beginnt Ihr jüngstes Buch. Leben wir in einer so grausamen Gesellschaft?
Urs Jaeggi: Wie könnte die Welt in Ordnung sein, wenn wir sehen, was mit Millionen Flüchtlingen passiert, wenn Polizisten in den USA Schwarze erschiessen, wenn es Hungersnöte und Kriege gibt. Es passiert Ungeheuerliches. Das schlägt sich und muss sich in der Literatur niederschlagen.
Auffallend an Ihren Figuren ist: Sie können sich nicht gegen die gesellschaftlichen Zwänge wehren und geraten unter die Räder.
Die Gesellschaft übt Gewalt aus. Unrecht gegenüber dem Einzelnen geschieht, indem Gruppen und Minderheiten diskriminiert und angegriffen werden: Ein Obdachloser gilt als Versager. Lange hatten die Frauen weniger Rechte. In Amerika sind die Schwarzen noch immer diskriminiert. Und wie lange hat es gedauert, bis die Diskriminierung der Homosexuellen in den meisten zivilisierten Ländern aufgehört hat? Da kann man nicht sagen, dass wir in einer friedlichen und aufgeklärten Gesellschaft leben.
Können wir aufgrund der gesellschaftlichen Zwänge also viel weniger über unser Schicksal bestimmen, als wir vielleicht denken?
Je besser jemand ausgebildet ist, umso mehr kann sie oder er selber über sein Leben bestimmen. Die Möglichkeit, ob jemand eine solide, ihm entsprechende Ausbildung machen kann, ist noch immer zu sehr an privilegierte Gesellschaftsschichten geknüpft. Das trifft nicht nur die Armen, deren Zahl weltweit wächst. Selbst die Mittelschicht in Amerika kann sich ohne Stipendien das Universitätsstudium für die Kinder nicht mehr leisten, ohne sich lebenslang zu verschulden. Es kann Aufgabe eines Schriftstellers sein, solche Missstände zu beschreiben.
Sie verstehen sich als gesellschaftskritischer Autor?
Das geht nicht anders, das muss ich. (lacht). Ich bin nicht zufällig Soziologe geworden.
Der Soziologieprofessor Urs Jaeggi und der Schriftsteller Urs Jaeggi unterscheiden sich nicht?
Es ist nur eine etwas andere Sprache. Wobei «nur» eine Untertreibung ist. Denn auch als Soziologe wollte ich so schreiben, dass ein breites Publikum meine Texte versteht. Das ist im deutschen Universitätsbetrieb – anders als in Frankreich – eher selten. Oder sogar verpönt.
Sie konzentrieren sich in Ihrem Buch auf Aussenseiter.
Meine Figuren sind Figuren am Rande. Sie repräsentieren das Ausgeschlossensein, die Nichtakzeptanz und die Armut in der Gesellschaft. Aussenseiter spielten für mich immer eine wichtige Rolle. Ich will über diejenigen schreiben, über die sonst meist nur negativ gesprochen wird.
In Ihren Figuren finden sich auch autobiografische Züge. Etwa den Linkshänder, der leidet, weil er Linkshänder ist.
Ich habe schon mit fünf Jahren angefangen zu malen und ging am Samstagnachmittag in einen Malunterricht. Es war schrecklich, wie ich später in der Schule von links nach rechts umschulen musste und umgeprügelt wurde. Als Linkshänder war man eine Art Verräter; ein Trotziger, der einfach nicht will. Es kamen Aufsätze zurück mit der besten Note und trotzdem wurde das Heft zerrissen. Da habe ich aufgehört zu zeichnen und habe angefangen, Fussball zu spielen.
Anders als ihre Romanfiguren haben Sie sich aber nicht einschüchtern lassen. Sie haben weitergezeichnet und 1992 haben Sie gar die Universität verlassen, um als Kunstschaffender zu arbeiten.
Weg bin ich von der Universität als Emeritierter, als in den Ruhestand Gekommener. Allerdings hatte ich schon sechs Jahre früher, die Hälfte meines Lehrstuhles freiwillig an eine Frau abgetreten. Wir wollten mehr Frauenprofessuren schaffen. Ich nutzte dann diesen Freiraum, um in einer Bildhauerwerkstatt in Berlin eine dreijährige Lehrzeit zu machen, um zu lernen, wie man schweisst und wie man mit Holz umzugehen hat.
Eine Universitätskarriere steht doch auch für gesellschaftliche Anerkennung. Haben Sie nie bereut, an der Uni aufgehört zu haben?
Natürlich gab es immer wieder Leute, die fragten, warum bist du nicht in der Soziologie geblieben? Ich hatte damals das Gefühl, dass die Soziologie etwas einschläft, sich instrumentalisieren lässt für Berufskarrieren, und weniger kritisch wurde. Ich habe mir gesagt: Man hat ein Leben. Was ich jetzt nicht mache, kann ich nie mehr machen. So habe ich mir einen ganz frühen Lebenstraum erfüllt. Dass ich es wagte, habe ich nie bereut. Ich bin deswegen ja nicht unpolitischer geworden und habe weiter Essays geschrieben. In dieser Welt kein bisschen verrückt zu sein, ist schwer vorstellbar.
Der Kampf gegen gesellschaftliche Vorgaben findet sich auch bei Ihrer beruflichen Karriere.
Sie mussten eine Banklehre absolvieren, arbeiteten sich aber zum Soziologieprofessor hoch.
Ich wollte als Kind Architekt oder Künstler werden. Aber das ging nicht. Mein Vater starb an meinem 12. Geburtstag. Das Gymnasium hat mein älterer Bruder gemacht. Für zwei von uns hat es nicht gereicht. Nach Vaters Tod wollte ich Politiker werden wie er. Vaters Freunde sagten meiner Mutter: ‹Wenn er Politiker werden will, soll er eine Banklehre machen.› Das war ja nicht falsch. Ich habe aber rasch gemerkt, dass ich in diesem Beruf nicht weitermachen will und habe begonnen, mich auf die externe Maturitätsprüfung vorzubereiten.
Sie mussten sich also den Unizugang hart erarbeiten.
Es blieb mir keine andere Wahl. Nach acht Stunden Arbeitstag in der Bank habe ich noch bis morgens um drei Uhr Bücher studiert. Das war nicht einfach. Aber ich habe ja auch während meiner Unizeit gesehen, dass die Leute, die aus dem zweiten Bildungsweg kamen, gute und kritischere Studenten wurden.
Sie wurden in den 68ern schlagartig bekannt, als Sie in einem Buch die Machtverhältnisse in der Bundesrepublik analysierten. Sie prangerten die Machtkonzentration an und das Fehlen von demokratischer Mitbestimmung. Das ist über 40 Jahre her. Geändert ...
... hat sich eigentlich nichts. Mit den Grosskonzernen ist es noch schlimmer geworden. Sie bestimmen die Politik mit, ob links oder rechts oder die Mitte. Das macht die Armen nicht reicher, aber die Reichen noch reicher.
Warum hat sich wenig geändert?
Es ist schwierig, Gesellschaftsstrukturen zu ändern und Mechanismen zu durchbrechen. Gewisse Dinge lassen sich kaum ändern, sogar wenn man wissenschaftlich beweisen kann, dass sie falsch sind. Und wenn man sieht, in wie vielen wichtigen Fragen die Sozialdemokraten Kompromisse und falsche Kompromisse eingehen, ist das traurig. Die sozialdemokratischen Parteien rücken immer näher an die bürgerlichen ran und verlieren an Schärfe und an Gesellschaftskritik.
Links ist Ihnen heute zu wenig links?
Ich komme aus einer Generation, wo Sozialdemokraten und Sozialisten wirklich gekämpft haben. Geschichten wie den Mindestlohn müsste man radikaler angehen. Auch das Grundeinkommen, für das ich schon lange eintrete. Es gibt keine Partei, die den Leuten erklärt, was Sache ist. Es gibt nur ganz wenige Versuche, die demokratische Mitbestimmung im Wirtschaftssystem zu ändern und eine mündige Gesellschaft zu schaffen.
Sie wurden ’68 eine wichtige Figur, haben etwa auch Rudi Dutschke betreut. Wie nahe standen Sie persönlich den 68ern?
Ich war unter den Professoren einer der wenigen, der Verständnis für die Anliegen der 68er-Bewegung hatte und der sich nicht als Professor, sondern als Lehrer verstand, der mitdiskutierte. Es gab unter den 68ern aber unterschiedliche Gruppierungen, die konnten und wollten miteinander nicht diskutieren. Ich habe immer versucht, die dogmatischen Grenzen zu durchbrechen.
Sie wurden dafür sowohl von links als auch von rechts kritisiert.
Die Kritik hat mich nicht erschüttert. Ich hatte die Haltung, die ich zu Hause gelernt habe: Nicht einfach dogmatisch Parolen zu vertreten, sondern zu den eigenen Gedanken zu stehen.
Sie haben auch schon von der Arroganz der 68er gesprochen.
Der Arroganz, wo es sie gab, bestand etwa darin, dass einer, der – wie ich – gesagt hat, was er denkt und nicht blind den Ideologien folgte, als Scheissliberaler beschimpft wurde. Das hat mich geärgert. Ich habe auch gerade während der 68er-Zeit zu zeigen versucht, dass ideologisches Denken ein falsches Denken ist, das zu unnötigen Verhärtungen führt. Ideologien sind zerstörerisch. Mündigkeit besteht darin, dass man ideologiefrei miteinander umgehen kann.
Wie würden Sie rückblickend den Einfluss von ’68 beurteilen?
Ich glaube schon, dass da viele für ihr Leben profitiert haben, wobei man vorsichtig sein muss. Ich habe damals ja viel Prominenz der deutschen Sozialdemokraten gekannt und war zum Teil mit Ihnen befreundet. Die wurden später Ministerpräsident oder gar Kanzler. Einige von ihnen haben dann vergessen und verdrängt, was sie als engagierte Jusos wollten.
Sie meinen den späteren Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Ja, wir waren befreundet. Als er noch Ministerpräsident war, hat er meine erste Ausstellung in Olten eröffnet. Aber später brachen wir den Kontakt ab. Ich hatte ihm geschrieben, was mir nicht gefiel, wie man dies unter Freunden macht. Er hatte keine Freude an der Kritik. Basta. So ging es mit einigen, die als Junge radikal waren und dann durch das System immer mehr Kompromisse machten und ihre eigene Identität verloren haben.
Sie sind Ihren linken Positionen stets treu geblieben. Woher kommt dies?
Das verdanke ich auch meinem Vater. Er war Anwalt, war Kantonsrat der sozialdemokratischen Partei, die damals viel radikaler war als heute. Mein Vater war aber nie dogmatisch. In seinen letzten Lebensjahren wurde er gar zum Präsidenten des Schweizerischen Kaufmännischen Vereins gewählt. Und was ich nie vergessen habe: Mein Grossvater war 30 Jahre lang Knecht bei seinem Bruder. Katholisch, keine Verhütung. Er hatte zehn Kinder. Kein Einziges blieb ganz gesund. Drei starben sehr jung. Er zog dann in die Stadt und hat die Konsumgenossenschaft und über die Grütlianer die Solothurner Sozialdemokratische Partei mitgegründet.
Dieses Umfeld prägte Sie?
Es prägte mich fürs Leben. Ebenso der Zweite Weltkrieg. Und später mein Einblick in die Kolonialgeschichten. Unsere Familie ging jeden Sonntag spazieren mit anderen Sozialisten. Dann ging es ins Volkshaus. Dort gab es einen Stammtisch, wo am Sonntag jeder Arbeiter bei drei Akademikern – einer war mein Vater – Rat holen konnte, wenn etwa ein Arbeitskonflikt vorlag oder eine Scheidung anstand. Wir Kinder durften da zuhören. Das hinterlässt Spuren, auch wenn Du als Kind manches nicht verstehst. Die Kindheitserfahrungen, auch die mit einer alleinerziehenden Mutter, prägen sich unvergessen ein. Das spürt man sowohl in meiner Soziologie als auch in meiner Literatur und auch in meinem Kunstschaffen.