Durchsetzungsinitiative
Oltner Familie wehrt sich seit Monaten gegen die Ausschaffung

Familie H. steht vor einem Scherbenhaufen. Vater, Mutter und die vier Kinder, die hier geboren sind, müssen die Schweiz verlassen. Ihr Sozialhilfebezug war zu hoch. So funktionieren «Ausschaffungen».

Lucien Fluri
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2010 haben die Schweizer Ja zur Ausschaffungsinitiative gesagt. Ob es im Kanton Solothurn seither mehr Ausschaffungen gab, ist unbekannt. Die Zahlen fehlen.

2010 haben die Schweizer Ja zur Ausschaffungsinitiative gesagt. Ob es im Kanton Solothurn seither mehr Ausschaffungen gab, ist unbekannt. Die Zahlen fehlen.

Keystone

Aishe H.s Stimme bricht. Sie weint über den Scherbenhaufen, über den sie ihr Leben jetzt zu balancieren hat. Das Land, in dem sie ihre vier Kinder geboren hat, weist sie aus. Aishe A., ihr Mann und die Kinder müssen packen und für immer ausreisen. Zurück nach Mazedonien.

So hat es das Bundesgericht entschieden. 315 000 Franken Sozialhilfebezug, knapp 400 000 Franken Schulden und ein Jahre zurückliegender Betrug sind genug (wir berichteten). «Wir sind keine Verbrecher», sagt sie immer wieder.

Aishe H. und ihre Familie erleben gerade, wie hart das Schweizer Ausländerrecht sein kann: Er, der Serbe (51), und sie, die Mazedonierin (38), gehören zu den gut ein Dutzend Personen, denen die Solothurner Behörden jährlich die Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung entziehen. Gehen sie nicht freiwillig, werden sie ausgeschafft.

Die Gründe für Ausschaffungen sind vielfältig. Doch eines ist allen Fällen gemein: Gekämpft wird meist bis zum Schluss. Viele Fälle landen vor Bundesgericht. Auch Aishe H. und ihr Mann Ali gingen durch alle Instanzen, um hier zu bleiben. Erfolglos. «Wir warten jetzt.» Bald droht die zwangsweise Ausschaffung.

«Leute mit Herz»

Olten. Ein Mehrfamilienhaus an einer viel befahrenen Strasse. Es ist Oktober. Der Himmel grau. Ali H. serviert Kaffee. Er sitzt am Boden seines Wohnzimmers. Neben dem Flachbildschirm steht ein Schaukelpferd. An den Wänden hängen Landschaftsbilder in kitschig-leuchtenden Farben, Porträts der Kinder. George W. Bush grüsst auf einem Bild einen Würdenträger Ex-Jugoslawiens. Eine ganz normale Familie, auf den ersten Blick. «Wir sind Leute mit Herz», sagt der Vater.

Was geht ihm durch den Kopf, wenn er an die bevorstehende Ausreise denkt? Welche Ängste hat er? Fast zwei Stunden dauert das Gespräch. Und nie beantwortet Ali H. diese Frage. Die Familie hat sich noch nicht mit dem Gedanken abgefunden, gehen zu müssen. Immer wieder läuft er zum Fernsehmöbel, wühlt in dessen Schublade nach Dokumenten. Ein Leben mit fehlender Ordnung. H. bringt Arztzeugnisse aus der Schublade, er schimpft über das Migrationsamt, er macht unglückliche Zufälle für sein Schicksal verantwortlich.

Doch die Fakten des Bundesgerichts sind eindeutig. Seit 2009 hat der Familienvater nicht mehr gearbeitet. Nur gerade drei Monate lang war er einmal bei der Post. «Wegen meiner Schulter ging dies nicht mehr», sagt er. «Beiden wäre es grundsätzlich zumutbar, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen», urteilen die Gerichte. Die Schulden stiegen, der Sozialhilfebezug wuchs und wuchs. Die Behörden zeigten Geduld und organisierten Arbeitsintegrationsprogramme. Bis sie irgendwann die Notbremse zogen.

«Ist das gerecht?»

Eine Familie, ein Wohnzimmer, wie es sie zu Tausenden gibt in der Schweiz. Wo die Gründe liegen, dass das Leben in der Schweiz nie gut zu laufen begann, wird nicht deutlich. Was ist mit den Hunderttausenden Franken Sozialhilfebezüge? «Ich bin Diabetiker. Ich hatte oft Schmerzen.» Die fehlende Integration, die das Gericht zu allem hinzu noch beklagt hat? «Ich kenne überall Leute. Wenn ich ins Coop gehe, werde ich gegrüsst», sagt er. Die unzähligen Verlustscheine? «Ich wurde betrogen», sagt er. Das damalige Gerichtsurteil wegen Betrugs will er nicht zeigen.

«Ausschaffung» ist nicht immer gleich Ausschaffung

Wenn der Volksmund Ausschaffung sagt, dann ist damit meist einfach gemeint, dass ein Ausländer die Schweiz verlassen muss. Korrekt ist der Begriff nicht. Denn eigentlich ist dies ein Widerruf der Niederlassungs- oder der Aufenthaltsbewilligung. Eine Ausschaffung bedeutet konkret, dass eine Person mit Zwangsmassnahmen, etwa unter Einsatz der Polizei, ausser Land gebracht wird. Viele der fälschlicherweise «ausgeschafft» genannten Personen reisen jedoch freiwillig aus.
Das zeigen die Zahlen: 2013 gab es im Kanton 16 Widerrufe der Niederlassungsbewilligungen. 5 Personen reisten freiwillig aus, 2 wurden ausgeschafft. Diverse Verfahren sind hängig. 2012 gab es 9 Widerrufe, darunter 2 freiwillige Ausreisen und 5 Ausschaffungen. (lfh)

In einem abgewetzten und halb zerfledderten Plastiksack bringt Aishe H. ihre Medikamente. «Sehen Sie!» Unzählige Schachteln. Auf dem Tisch liegt das Arztzeugnis. Magenoperationen, schweres Übergewicht. Immer wieder spricht sie über ihre Krankheit. Selbstmitleid macht sich breit. «Ich kann so nicht mehr als Sängerin arbeiten», beklagt sie ihre Körperfülle. Auf dem Handy zeigt sie Bilder: Jung, schlank, hübsch und glücklich. Vergangene Zeiten. «Ich bin psychisch krank. Eine Ausweisung geht doch nicht», sagt sie. «Wir sind wie Schweizer», sagt er.

Vier Kinder haben sie. Sie müssen mit. «Wir waren nur in den Ferien im Ausland», schreibt die älteste Tochter in einem Brief. «Ist es gerecht, was das Migrationsamt macht? Wir haben kein Haus. Weder in Serbien noch in Mazedonien»

Auf dem Tisch liegen die Zeugnisse der Kinder. Die Noten sind gut. Die älteste Tochter könnte bald eine Lehrstelle suchen, wenn sie nicht mit ihren Eltern gehen muss. Sie ist hier geboren. «Meine Kinder verlieren die Zukunft», sagt er. Das Migrationsamt sagt in Amtsdeutsch: «Eine gewisse kulturelle und soziale Entwurzelung ist jeder familiären Umgliederung immanent». Es werde «nicht einfach» hat das Amt erkannt. «Jedoch befinden sich die Kinder in einem anpassungsfähigen Alter.» Die jüngste Tochter sitzt vor dem Fernseher, hustet, keucht mit Fieber. «Meine Tochter fühlt sich zur Hälfte als Schweizerin», sagt die Mutter. «Wie können wir dort unten leben? Die Politik ist korrupt.»

Ohne Ausweis kein Job

Kurz bevor das Bundesgericht entschied, hat Aishe H. doch noch einen Job angenommen. Sie verlor ihn. Denn das Migrationsamt hält die Ausweise der Familie seit zwei Jahren zurück. «Wir bestätigen, dass sich Ihr Ausländerausweis zurzeit zwecks Prüfung der Verlängerung beim Migrationsamt befindet. Auf begründete Nachfragen wird Drittpersonen das Obengenannte mündlich oder schriftlich bestätigt.»

Wer Aishe H. in dieser Zeit anstellen wollte, musste beim Migrationsamt nachfragen. Doch wer das tun muss, der stellt Aishe H. offenbar nicht ein. «Wir können ohne Ausweis keine Arbeit finden», sagt sie.

Bis wann die Familie gehen muss, weiss sie nicht. Oder will es nicht wissen. «In meinem Zustand geht das nicht», sagt sie. «Wohin sollen wir gehen? Wir haben nichts.» Aishe H. denkt nur an die drei Zimmer in ihrer Heimat, die ihrer Mutter gehören. Doch schon ihr Bruder wohnt mit seinen Kindern dort. «Gott helfe uns», sagt Ali H. «Suchen Sie Asyl in einem anderen Land», hat ihm sein Anwalt geraten. Er war inzwischen 23 Jahre hier, sie 14.
Und jetzt? Ende Januar ist die Lage ungewiss. Die zwangsweise Ausschaffung droht. Der Anwalt hat gerade wieder dem Migrationsamt geschrieben. «Meine Frau ist psychisch krank, eine Ausschaffung geht nicht», sagt der Familienvater. Doch dass das Ende naht; ist vielleicht spürbar: Das Sozialamt weigerte sich nach dem Bundesgerichturteil schon mal, die Wohnung zu bezahlen. Wie Tiere würde die Familie weggeschickt und auf die Strasse gestellt, sagt er.