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Josianne Marty hat ADHS. Sie ist aber kein zappeliges Kind – sondern 25, verträumt und unorganisiert. Ein Alltag ohne Hilfe ist unmöglich. Das ist oft nicht einfach – aber nicht immer nur schlecht. Porträt einer erwachsenen Chaosprinzessin.
NOVEMBER
Heute hat sie ihre Medikamente nicht genommen. «Damit man es besser merkt», sagt Josianne Marty. «Es» bedeutet ADHS und die 25-Jährige hat es schon ein Leben lang. Marty flucht. Sie räumt die Küche in ihrer Wohnung in Schönenwerd auf. Ihre langen blond-rosa Zöpfe kommen ihr in den Weg während sie den Filter ihres Geschirrspülers abschrubbt.
Die kleingewachsene Frau steht vor der Spüle und putzt, hält immer wieder inne, um sich das Haar über die Schultern zurück zu werfen. Sie hat einen leeren Wimperntuschbehälter in den Geschirrspüler gelegt. «Das war keine so gute Idee.» Auf dem Geschirr und auf dem Filter, den Marty in den Händen hält, sind schwarze Flecken.
«Das langet», sagt die Schönenwerdnerin und setzt den Filter wieder in den Geschirrspüler. Ein kurzer Blick auf die schwarz gesprenkelten Messer neben der Spüle. «Das mache ich später.» Die junge Frau beginnt, leere Milchtüten auszuwaschen. «Eigentlich könnte ich noch den Karton machen», fällt ihr ein und Marty lässt die Tüte sinken. Ein Blick auf das schwarze Brett in der Küche. Karton-Abfuhr ist erst in einer Woche wieder. Dann doch keine Kartonbündel.
Vom Abwaschen hat Marty genug, also zuerst die Spaghetti von gestern in den Kühlschrank stellen. Aber dann entdeckt Marty ihren Rucksack auf dem Stuhl. Der liegt seit vorgestern dort. Sie räumt in aus. «Ah weisch was», sagt Marty, Handcreme und Portemonnaie in der Hand. «Das mache ich lieber später.»
Sie wendet sich wieder dem Tisch zu, eine Trinkflasche knallt auf den Boden. Marty seufzt und hebt sie auf. Es sei schon anstrengend. «Es» bedeutet ADHS – und ohne Medikamente hält es die junge Frau kaum aus.
Bis vor rund 10 Jahren gingen Experten davon aus, dass es ADHS im Erwachsenenalter gar nicht gibt. Wird die Störung heute dafür zu oft diagnostiziert?
Alltagsschwierigkeiten
Viele Leute würden bei ADHS an Kinder denken. «Die sagen dann: Jaja, die können sich nicht konzentrieren, sind hyperaktiv», stellt Marty fest, die braunen Augen wandern hin und her. Dabei sei ADHS viel mehr als das. Marty hat eine stark ausgeprägte Störung. Sie ist eine erwachsene Chaosprinzessin. Sucht Struktur, die sie selbst nicht in ihren Alltag bringt.
Deshalb hat Marty Hilfe von verschiedenen Stellen: Beistand, Psychiatrische Spitex, Wohnbegleitung. Einmal in der Woche geht sie zu ihrer Therapeutin und jeden Tag nimmt sie «Elvanse» – ein Medikament, das ihr hilft, sich besser zu konzentrieren.
Rechnungen bezahlen, einkaufen gehen, Küche aufräumen: Bei alldem braucht Marty Hilfe. Im 1. Arbeitsmarkt tätig sein kann sie nicht. Das hat die junge Frau versucht, bis ihr alles zu viel wurde.
SEPTEMBER
«Ich möchte Piercerin werden», erzählt Marty. Silberne Ringe weiten ihre Ohrläppchen aus, glitzernde Steine stecken in Nase und Lippe. Marty trägt die Haare weissblond und schulterlang. In der Schweiz Piercerin zu werden, sei aber schwierig.
Die 25-Jährige macht eine von der IV bezahlte Umschulung zur Logistikerin. Die IV unterstützt sie schon seit ihrer Schulzeit. «Ich war immer laut, immer frech», erinnert sie sich. Bereits in der ersten Klasse schwänzte Marty die Schule, weil sie kaum etwas sehen konnte Als das Augenproblem zu Beginn der Primarschule entdeckt wurde dachte man, das sei der Grund für Martys unkonzentrierte Art.
Auch in der Oberstufe wurde sie nicht abgeklärt. Sie besuchte die Rudolf Steiner Sonder-Schule. «Ich war auch da laut und frech, aber es gab halt immer solche, die noch lauter und noch frecher waren.»
Dann absolvierte Marty eine Lehre als Floristin – «ich weiss eigentlich auch nicht mehr warum» – arbeitet aber nicht darauf. Sie versuchte es als Detailhändlerin, aber auch das passte nicht. Schliesslich zog sie von der IV begleitet eine dreijährige Lehre zur Zierpflanzengärtnerin durch.
Marty ist aber auf diverse Pflanzen allergisch, und hat deshalb nie auf dem Job weitergearbeitet. Die Versuche im ersten Arbeitsmarkt erschöpften sie, trieben sie ins Burnout. Damals war sie 23.
Alltagsmüde
Mit 18 stellte ein Kinderarzt Martys erste Diagnose. Das Chaos im Kopf erhielt einen Namen: ADHS. Nach Burnout und Klinikaufenthalt als 23-Jährige wurde auf Wunsch der IV noch ein neuropsychologisches Gutachten erstellt. «Dann habe ich begonnen, mir mehr Gedanken um mich selbst zu machen», sagt die junge Frau. «So wurde mir klar: Ach deshalb bin ich so – und immer so chaotisch. Und: Für Vieles, wofür mich die Leute schimpfen, kann ich ja gar nichts dafür.»
Marty ist müde. Sie schlafe kaum. Abends habe sie immer noch 1000 Gedanken im Kopf. Morgens fällt es ihr schwer aufzustehen, und sich für mehrere Stunden auf die Arbeit zu konzentrieren. Fast hätte sie das Praktikum durchgezogen. Am 15. September, 2.5 Monate vor Abschluss, bricht sie in Absprache mit dem Arbeitgeber ab.
OKTOBER
Marty ist arbeitslos. Die Haare trägt sie jetzt blond und kurz, eine Strähne türkis gefärbt. «Es war einfach zu viel», sagt sie kopfschüttelnd und fährt mit den Handflächen über ihre Beine. «Im Geschäft sagten sie auch, ich sei nicht mehr tragbar gewesen.» Sie hat im Rahmen der Umschulung die Prüfung für den Stapler gemacht. Immer wieder seien ihr damit Kisten runtergefallen.
Sie sei launisch gewesen. Wütend. Habe Aufträge vergessen. «Ich bin so vergesslich», seufzt sie, «Aber kein Wunder: Bei mir kommt alles auf einmal und ungefiltert ins Hirni. Typisch ADHS!» Marty ist oft alleine zu Hause, schläft tagsüber, sieht fern. Auf dem Couchtisch klebt ein Zettel: Lüften, Staubsaugen, Abfall leeren. In jedem Zimmer hängen solche Pläne, damit Marty weiss, wie sie beim Aufräumen vorgehen muss.
Die Küche mag sie nicht zeigen, dort herrsche völliges Chaos. Dafür das Büro. Die Tür kann sie kaum öffnen, so vollgetopft ist der Raum dahinter. Plastiksäcke, Kleider, Ordner. Marty muss die Beine heben, ihre Füsse auf die wenigen Stellen setzen, die nicht vollgestellt sind. Das Chaos in der Wohnung spiegle das Chaos im Kopf. «Wenn es mir schlecht geht, schaffe ich es einfach nicht, aufzuräumen.»
Marty hasst Unordnung. Sie hätte gern ein System – sie kann es nur nicht einhalten. «Ich bin so schnell überfordert.» Wie es weitergeht, weiss die 25-Jährige noch nicht. Vielleicht kriegt sie eine Stelle in der VEBO, einen geschützten Arbeitsplatz, nicht im 1. Arbeitsmarkt.
340 Kilogramm Metylphedinat werden jährlich in die Schweiz geliefert. Dabei handelt es sich entweder um fertige Medikamente gegen ADHS, oder um Präparate, aus denen Apothekern beispielsweise Ritalin herstellen. Mit Psychostimulantien, zu welchen auch Metylphenidat-Präparate gehören, entsteht jährlich ein Umsatz von rund 20 Millionen Franken.
«Modekrankheit»
«Ich wünsche mir, dass ADHS in unserer Gesellschaft besser akzeptiert wird. Die Leute beachten es häufig so, als sei es einfach eine Ausrede für alles.» Anders Sein habe keinen Platz. «Das macht mich wütend, und dann kann ich erst recht nicht auf mein Maul sitzen», sagt Marty achselzuckend.
So sei es oftmals auch in Beziehungen. «Ich bin halt impulsiv.» Marty hat Liebeskummer. Im Praktikum hat sie jemanden kennengelernt. Es hat nicht geklappt. «Ich glaube, dass ich mein Gegenüber oft überrumple.» Marty redet, ohne Punkt, ohne Komma. Weil sie so impulsiv sei, zerrinne ihr auch das Geld zwischen den Fingern. Marty hat Schulden, mehrere Tausend Franken. Sie begann Kleider, Haushaltsartikel, Krimskrams online zu bestellen und ignorierte die Rechnungen. Deshalb regelt Martys Beiständin nun ihre Finanzen.
Die HEKS Wohnbegleitung gibt ihr jede Woche einen Briefumschlag mit Haushaltsgeld. Über ihre Schulden redet die junge Frau ganz offen. Das gehöre halt dazu. So wie die Erkrankung nebst dem ADHS. Marty ist depressiv. Zudem besteht Verdacht auf die Persönlichkeitsstörung Borderline. Marty redet, im Staccato, ganz offen. «Schliesslich hat ja jeder irgendeinen Knacks.»
Dezember
Marty will ihre Schulden abzahlen. In den nächsten Monaten entscheidet die IV, ob sie der 25-Jährigen eine Rente zahlen. Beim Coiffeur hat sich Marty blond-rosa Zöpfe einflechten lassen. Und sie hat einen geschützten Arbeitsplatz gefunden. Montag bis Freitag arbeitet sie halbtags in der VEBO in Oensingen, für 4.30 Franken pro Stunde. «Dort haben sie einen Stapler» sagt die Schönenwerdnerin, klatscht in die Hände, hüpft im Sitzen auf und ab. Und den dürfe abgesehen vom Gruppenleiter nur sie fahren.
Marty arbeitet im Lager, beschriftet Klingel- und Briefkartenschilder, bedient Maschinen. Sitzend. Das ist anstrengend. Aber Marty will es schaffen. 1 Jahr lang soll sie 50 Prozent arbeiten. «So habe ich am Nachmittag noch Zeit für den Haushalt.»
Marty macht auch zu Hause wieder mehr. Sie bastelt viel: Messerhalter, Tischtücher, Lampenschirme. Stellt Cremes und Shampoos her. Dann sitzt sie jeweils ganz ruhig auf dem Sofa, macht während Stunden nichts anderes. Marty nennt es den Hyperfokus. «Typisch ADHS.» Wenn man eine Beschäftigung ausübe, die einen wirklich interessiere, könne man sich richtig hingeben. «ADHSler wären für viele Firmen eine Bereicherung.» Firmen im 1. Arbeitsmarkt, dorthin zurück will Marty aber nicht. Noch nicht.
Sie ist zufrieden in der VEBO. «Die kennen mich dort, die wissen, wie sie mich einsetzen können». Nach dem ersten Jahr soll sie ihr Pensum erhöhen. Marty ist zufrieden. Und frisch verliebt. «Mal schauen, ob’s klappt», sagt sie schmunzelnd. Er sei strukturierter als sie, das sei gut. «Endlich geht es in die richtige Richtung. Manchmal wünsche ich mir schon ein normaleres Hirn – aber eigentlich bin ich gerne so wie ich bin.»
Auch mit ADHS. Marty runzelt die Augenbrauen. «Wa isch jetzt da wieder?» Das selbstgemachte Tuch hat sich an einer Ecke vom Couchtisch gelöst. Marty beugt sich über die Tischplatte, fährt mit beiden Daumen über das Tischtuch, bis es am rechten Platz ist und setzt sich wieder aufrecht hin. Sie lächelt. «So.»