Pflegefinanzierung
Jetzt gehts schnell in der Pflästerlipolitik: Gemeinden tragen vorerst ungedeckte Kosten

Laut einem Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts dürfen Spitex-Organisationen und Pflegeheime die MiGeL-Kosten weder auf die Krankenkassen noch auf die Patienten abwälzen. Ab 1. Juli sollen die Gemeinden deshalb vorübergehend ungedeckte Kosten für Verbandmaterial tragen.

Urs Moser
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Ungedeckte Kosten für Verbrauchsmaterial. Eine Pflegerin bereitet einen Wundverband vor.

Ungedeckte Kosten für Verbrauchsmaterial. Eine Pflegerin bereitet einen Wundverband vor.

Severin Bigler

Seit dem 1. September 2017 herrscht Unklarheit in einem Punkt der Pflegefinanzierung – und die Hoffnung auf eine schnelle politische Lösung hat sich nicht erfüllt. Das Bundesverwaltungsgericht gab 2017 klagenden Krankenkassen Recht: Spitex-Organisationen und Pflegeheime dürfen den Kassen die sogenannten MiGeL-Kosten nicht mehr zusätzlich zu deren Pflegekostenbeiträgen separat in Rechnung stellen. Dabei geht es um Material wie Insulinspritzen, Stützverbände oder Inkontinenzhilfen, das auf der Liste der kassenpflichtigen Mittel und Gegenstände (MiGeL) steht.

Auf die Heimbewohner und Spitex-Patienten dürfen die Kosten dafür auch nicht abgewälzt werden, somit ist klar: Die öffentliche Hand muss über die Restkostenfinanzierung der Pflege für die MiGeL-Kosten aufkommen oder die Spitex-Dienste und Heime bleiben darauf sitzen. Für beide Seiten verständlicherweise keine befriedigenden Optionen, man will die Kassen über entsprechende Rechtsanpassungen wieder in die Pflicht nehmen. Als Vertreter des schweizerischen Gemeindeverbands sass Thomas Blum, Geschäftsführer des Solothurner Einwohnergemeindeverbands, wiederholt mit Vertretern von Krankenkassen und Bundesamt für Gesundheit am runden Tisch in dieser Sache, letztmals diesen Frühling. «Man ist sich näher gekommen, aber noch nicht einig geworden», sagt Blum.

Er hatte eigentlich gehofft, dass der Bundesrat seine Kompetenz ausschöpft und das leidige MiGeL-Problem über eine Verordnungsänderung löst, die schnell, will heissen diesen Monat, hätte in Kraft treten können (vgl. Box rechts). Aber daraus wurde nichts. Es soll einen weiteren runden Tisch «noch vor den Sommerferien» geben.

Kassenbeiträge erhöhen

In der Diskussion um die MiGeL-Kosten stützte der Bundesrat bislang den Standpunkt der Krankenkassen: Die Abgeltung sei in deren Pflegekostenbeiträgen enthalten. Inzwischen kommt aber Druck aus dem Parlament. So verlangt etwa eine Motion des Solothurner CVP-Ständerats Pirmin Bischof, dass die Bei Beiträge der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu erhöhen und «zusätzlich die Kosten für die Verwendung von Mitteln und Gegenständen der gesetzlichen Liste (MiGeL) in den Beiträgen zu berücksichtigen» sind.

Gemeinden zahlen

Im Kanton Solothurn signalisierten die Gemeinden den Spitex-Organisationen und Heimen unterdessen zwar, dass man sie nicht würde hängen lassen, falls sie durch ungedeckte Kosten tatsächlich derart in finanzielle Probleme geraten, dass die Grundversorgung in der Pflege gefährdet sein könnte. Aber auf unbestimmte Zeit ist ein solcher Schwebezustand nicht zumutbar. Nachdem es zwar länger dauerte als in anderen Kantonen, soll es nun schnell gehen mit einer Übergangslösung, die Klarheit schafft, bis die Sache auf Bundesebene neu geregelt ist: Heime und Spitex-Dienste sollen bereits ab 1. Juli die effektiv ungedeckten Kosten für Pflegematerial der kantonalen Clearingstelle bzw. der entsprechenden Einwohnergemeinde in Rechnung stellen können.

Ganz definitiv beschlossen ist die Sache noch nicht, ein Merkblatt des Amts für soziale Sicherheit, in dem das Prozedere im Detail erklärt ist, ging nämlich erst in den letzten Tagen bei den betroffenen Kreisen in Vernehmlassung. Namentlich der Vorstand des Einwohnergemeindeverbands muss an seiner nächsten Sitzung am 27. Juni noch sein Einverständnis geben. «Wir können zur Zeit noch nichts kommunizieren», sagt Amtschefin Claudia Hänzi deshalb auf Anfrage bloss. Die Regelung wurde aber zum Beispiel vergangene Woche an der Delegiertenversammlung des kantonalen Spitex-Verbands diskutiert und ist bereits in breiten Kreisen bekannt.

Nur ein Provisorium

Eine Krux ist, dass die Datenlage dünn, die früheren Geldflüsse verzweigt und deshalb gar nicht bekannt ist, wie hoch die zu deckenden Kosten überhaupt genau sind. Um einen Pappenstiel handelt es sich jedenfalls nicht, von einem mittleren einstelligen Millionenbetrag allein im Kanton Solothurn dürfte auszugehen sein. Mangels einer genauen Übersicht über die effektiven Ausfälle bei den Leistungserbringern kam aber die einfachste Lösung einer Pauschalabgeltung auch für eine Übergangsregelung nicht infrage. Ebenso können Spitex-Dienste und Pflegeheime keine Kosten rückwirkend geltend machen.

Um den Gemeinden Gewähr zu bieten, dass sie über die Restkostenfinanzierung künftig nur tatsächlich ungedeckte Kosten für Pflegematerial ausfinanzieren, muss ein Abrechnungssystem nach effektivem Aufwand zur Anwendung kommen. Das heisst: Um an ihr Geld zu kommen, müssen stationäre wie ambulante Leistungserbringer ihre Angaben zur Restkostenfinanzierung mit den Ausgaben für Pflegematerial gemäss Gegenständeliste für jede einzelne Person ergänzen.

Ein beträchtlicher Mehraufwand, denn bis jetzt hatten viele Spitex-Organisationen die Materialbewirtschaftung an spezialisierte Lieferfirmen ausgelagert, die auch gleich direkt mit den Krankenkassen abrechneten. Dafür erhält man nun auch Klarheit, welche Restkosten eigentlich genau auf den Verbrauch von Material aus der Mittel- und Gegenständeliste entfallen.

Ein nicht unwesentlicher Punkt sicher auch im Hinblick auf die weiteren Verhandlungen über eine Lösung auf Bundesebene, die dann wieder die Krankenkassen in Pflicht nimmt. Dass man weiter auf eine solche pocht, steht sowohl für den Kanton wie die Gemeinden ausser Frage. Dass es sich bei der Regelung, die nun ab dem 1. Juli umgesetzt werden soll, nur um eine provisorische und «nicht präjudizierende» Übergangslösung bis zur Einführung einer Finanzierung auf Bundesebene handelt, wird ausdrücklich betont.

«Können nicht Däumchen drehen»

Als Präsidentin Sigrun Kuhn-Hopp an der Delegiertenversammlung des Spitex-Verbands rapportierte, dass man vom Kanton sehr kurzfristig über die Kostenübernahme informiert worden sei, zeigte sich, dass die Gemeindevertreter an der Versammlung davon offenbar noch gar keine Kenntnis hatten. Dass sich der Vorstand des Einwohnergemeindeverbandes am 27. Juni im letzten Moment quer stellen könnte, ist allerdings nicht zu erwarten.

Nachdem das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2017 nicht an das Bundesgericht weitergezogen wurde, ist erstens unbestritten, dass die MiGeL-Kosten nach aktuell gültiger Rechtslage ein Fall der Restkostenfinanzierung sind. Und wenn nun nicht mehr damit zu rechnen ist, dass sich daran vor 2021, wohl eher 2022 etwas ändert, ist für Thomas Blum vom Einwohnergemeindeverband zweitens klar, dass «wir nicht bis dann Däumchen drehen können». Gewisse Fragezeichen bleiben beim Spitex-Verband dennoch bezüglich der Verbindlichkeit der Vorgaben des Kantons, die bloss in einem «Merkblatt» festgehalten sind. Da werde man wohl schon noch einmal nachhaken müssen, so Geschäftsleiterin Beatrice Grolimund.