Nationalratswahlen
Für Bern dürfen es ein bisschen mehr Kandidaten sein

Obwohl der Effekt nicht erwiesen und Kandidaten nicht so einfach zu rekrutieren sind, halten Parteien an Mehrfachlisten-Strategie für die Nationalratswahlen fest.

Urs Moser
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Im Kanton Solothurn waren es bei den Nationalratswahlen 2015 sogar 27 Listen, die ausgezählt werden mussten.

Im Kanton Solothurn waren es bei den Nationalratswahlen 2015 sogar 27 Listen, die ausgezählt werden mussten.

Baehram Alagheband

Es sei eine «Knochenarbeit, überhaupt Kandidierende zu finden», sagte CVP-Präsidentin Sandra Kolly zum eigenartigen Vorgehen ihrer Partei: Während vor den Kulissen ein angebliches Nominationsverfahren in den Orts- und Amteiparteien im Gang ist, hat die CVP ihre Wahlvorschläge für die Nationalratswahlen im Oktober bereits bei der Staatskanzlei deponiert.

Und so schwierig scheint die Kandidatensuche nun auch wieder nicht gewesen zu sein: Gleich vier Listen wurden eingereicht: zwei Stammlisten und zwei der Jungen CVP. Die Taktik, als eine Partei mit mehreren Wahllisten anzutreten, hat sich eingebürgert. Auf der einen Seite heisst es, es werde zunehmend schwieriger, Leute zu finden, die sich ohne echte Wahlchancen im Wahlkampf als Klinkenputzer für eine Partei aufopfern.

Auf der anderen Seite scheint man sich punkto Wahllisten überbieten zu wollen. Mehr Köpfe mobilisieren mehr Wähler, heisst es aus den Parteizentralen etwa zu dieser Taktik. Oder es sei bei nur noch sechs Solothurner Nationalratsmandaten kaum möglich, mit einer einzigen Liste eine regional, nach Geschlechtern und Interessengruppen ausgewogene Auswahl an Kandidaten anzubieten.

Effekt ist nicht erwiesen

Vor vier Jahren erlebte die Entwicklung ihren (vorläufigen?) Höhepunkt: Fast 150 Kandidatinnen und Kandidaten bewarben sich im Kanton Solothurn auf 27 Listen um die sechs Nationalratssitze. Davon stellten die in Bern vertretenen Parteien SVP, FDP, CVP und SP zusammen mit ihren Jungparteien allein 18 Listen, zwei die Grünen. Wenn es wirklich stimmt, dass mehr Kandidaten mehr Stimmen bringen, müsste eigentlich ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Anzahl Listen und der Wahlbeteiligung einerseits erkennbar sein. Und anderseits müsste über mehr Listen als die Konkurrenz zu verfügen sich eigentlich auch in einer Verschiebung der Wähleranteile auszahlen.

Das ist aber kaum festzustellen. Bei der Wahlbeteiligung schon gar nicht. Die lag in den 1970er-Jahren, als noch niemand von einer Listenflut sprach, bei deutlich über 60 Prozent. Seit den 1990er-Jahren schwankt sie zwischen unter 48 und knapp über 50 Prozent. Und der CVP zum Beispiel brachte es gar nichts ein, dass sie vor vier Jahren gleich mit fünf Listen antrat: Ihr Wähleranteil sackte von knapp 18 auf unter 15 Prozent ab und der Verlust des siebten Solothurner Sitzes ging auf ihre Kosten, sie stellt seither mit Stefan Müller-Altermatt nur noch einen Nationalrat.

Dass mehr Wahllisten ein grösseres Wählerpotenzial erschliessen, sei statistisch vielleicht nicht nachweisbar, räumt CVP-Präsidentin Sandra Kolly ein. Aber: «Es hat halt doch jede Kandidatin und jeder Kandidat ein persönliches Umfeld, welches sie oder ihn wählt», sagt sie zum Festhalten an der Multiplikator-Strategie. Der zweite Grund sei der Geografie und der Vielfalt des Kantons geschuldet. Alle Regionen und beide Geschlechter mit nur sechs Kandidierenden auf einer Liste abzubilden, sei fast nicht möglich.

Das sieht SVP-Präsident Christian Imark (seine Partei tritt im Oktober ebenfalls mit vier Listen an) ganz ähnlich. Ein zentraler Grund für mehrere Wahllisten liege in der Struktur des Wahlkreises Kanton Solothurn mit nur sechs Sitzen und fünf Amteien: «Dies ergibt pro Liste und Amtei praktisch nur eine einzige Kandidatur. Soll der gesamte Wahlkampf innerhalb einer Amtei nicht quasi auf eine einzige, regional verankerte Person fokussiert werden, ist die Partei praktisch dazu gezwungen, mehrere Listen einzugeben», meint Imark. An der Theorie, dass ein zusätzlicher Mobilisierungseffekt erzielt werden kann, wenn mehr Kandidierende Werbung für die Partei betreiben und so auch eine Vielzahl von Freunden und Verwandten mitziehen, habe er allerdings auch seine Zweifel, so der SVP-Präsident. Mindestens habe die Theorie ihre Grenzen, wo der Aufwand (organisatorisch und finanziell) für zusätzliche Listen zu hoch werde und die Gefahr bestehe, dass das Kandidatenfeld zunehmend unübersichtlich wird.

Von Profit überzeugt

SP-Präsidentin Franziska Roth hingegen ist davon überzeugt, dass ihre Partei sehr wohl davon profitiert, seit einiger Zeit mehrere Listen zu stellen. Sie rechnet vor: 1999 und 2003 gelang es der SP, mit einer Liste (plus Juso) ihre zwei Sitze zu halten, 2007 funktionierte es nicht mehr, die SP verlor einen Sitz. 2011 konnte der zweite Sitz mit zwei Listen zurückgeholt werden und 2015 wurden die zwei Mandate trotz nur noch sechs Sitzen für den ganzen Kanton mit insgesamt fünf Listen (inklusive Juso) verteidigt. «Ich stelle als Präsidentin gegen innen sehr wohl eine Korrelation zwischen Anzahl Kandidatinnen und Kandidaten und der Mobilisierung fest», sagt Roth. Man komme und telefoniere für «seine» Gemeinderätin oder «seinen» Kantonsrat. «Man kennt sie und ihn und hat am Telefon oder beim Klinkenputzen ebenso wie bei der Standaktion etwas zu berichten, weil man weiss, von wem man spricht und wofür der oder die steht.» Für Roth ist es «unbestritten, dass es unter der heute weitaus herausfordernderen Ausgangslage erfolgversprechender ist, das Potenzial für einen Sitzerhalt/Gewinn mit mehreren eigenen Listen abzuholen.»

Den Frauen hats nichts gebracht

Eingeläutet wurde die inzwischen Tradition gewordene Praxis nicht von der SP, sondern bei den Nationalratswahlen 1987 von den Freisinnigen. Sie stellten sich als Frauenförderer dar, hatten aber eher aus der Not eine Tugend gemacht: Weil sich keine Frau als Alibikandidatin auf einer Männerliste verheizen lassen wollte, trat man mit einer separaten Frauenliste an. Was es der Partei brachte, bleibt Spekulation, die Frauen profitierten nicht: Die FDP hielt ihre damals noch drei Sitze und den Wähleranteil auf stolzen 36 Prozent (es gab im Kanton Solothurn noch keine SVP), die bestplatzierte Kandidatin auf der Frauenliste machte nicht viel mehr als halb so viele Stimmen wie der Drittplatzierte auf der Männerliste.

Es ist nicht ganz ohne Ironie des Schicksals, dass nun bei den Sozialdemokraten, die für die Wahlen 2019 ein Frauenjahr ausgerufen haben, im Kanton Solothurn ausgerechnet der überzeugten Vertreterin der Multiplikatorstrategie der Weg nach Bern gerade wegen der Listengestaltung mit einiger Wahrscheinlichkeit erneut versperrt bleiben wird. Der Sitz von Bea Heim wird frei. Die SP tritt nicht mit einer Männer- und einer Frauenliste, aber mit zwei regionalen Listen an.

Dass die «West-Liste» mit dem Bisherigen Philipp Hadorn und Parteipräsidentin Franziska Roth als zweiter Spitzenkandidatin beide Sitze holt, ist so gut wie ausgeschlossen. Auf der «Ost-Liste» gilt der zum Comeback startende Ex-Regierungsrat Peter Gomm als heisser Favorit. Die SP dürfte somit eine Frauenvertretung nur halten können, wenn ihr bisheriger Nationalrat Philipp Hadorn abgewählt und von Parteipräsidentin Franziska Roth überflügelt würde. Wozu allerdings vor vier Jahren nur 123 Stimmen fehlten.