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Teil 2 der Serie "Solothurnerinnen sichtbar gemacht": Fabienne Notter ist die erste Frau an der Spitze des SAC Weissenstein. Im Interview erzählt sie, was sie am Bergsport fasziniert, welche Krisensituationen sie gemeistert hat und warum Bergsteigen nicht mehr eine so klare Männerdomäne ist wie früher.
Da der Kampf um Frauenrechte auch immer ein Kampf ums Sichtbarwerden war und ist, wollen wir 2021 Solothurnerinnen sichtbar machen. Jeden zweiten Montag (oder Dienstag) erzählt eine Solothurnerin von ihren Erlebnissen und Zielen und zeigt sich so den Lesern.
Wenn an einem schönen Morgen der Wecker zur Arbeit klingelt: Würden Sie manchmal gerne alles stehen und liegen lassen und ab in die Berge gehen?
Ja, natürlich! Vor allem, wenn es hier unten verhangen, über der Nebeldecke aber strahlend schön wäre. In meinem Beruf bin ich immer drinnen und im Büro, dabei wäre ich ein totaler Bewegungsmensch. Da zieht es mich manchmal schon fort.
Wie sind Sie aufs Bergsteigen gekommen?
Schon als Kind bin ich auf alle Bäume und Hausdächer geklettert…
Auf Hausdächer?
Ja, ich habe meine Freizeit oft auf Hausdächern verbracht. Dem Dachkännel entlang und über die verschiedenen Absätze können Sie fast an jeder Fassade hochklettern… ich war ziemlich eine Wilde (lacht). Aber das Bergsteigen habe ich erst viel später entdeckt. Vor zehn Jahren hat mich eine Freundin zum Klettern mitgenommen. Und kurz darauf ging ich mit einem Kollegen auf eine Hochtour. Da wusste ich: Das ist es. Also trat ich dem SAC bei.
Fabienne Notter (45) ist seit dem 1. März Präsidentin des SAC Weissenstein. Damit ist sie die erste Frau an der Spitze des 1886 gegründeten Traditionsvereins mit über 1900 Mitgliedern. Notter hat das Bergsteigen erst vor zehn Jahren entdeckt – über eine Freundin. Sofort hat es ihr den Ärmel reingezogen. Heute ist Notter Tourenleiterin für Hochtouren und Klettern. Auch beruflich trägt Notter viel Verantwortung: Sie ist Geschäftsleiterin der Caritas, Sektion Aargau und Solothurn. Seit zwanzig Jahren wohnt sie in Solothurn. (aka)
Was fasziniert Sie am Bergsteigen?
Was mich immer wieder packt, ist das stetige Dazulernen im technischen Bereich. Neue Bewegungsabläufe, Seiltechniken, erfinderische Problemlösungen. Auch das Kameradschaftliche und das Im-Moment-Sein gefallen mir sehr. Wenn ich auf einem Felsen stehe und überall geht es «s Loch ab», fühle ich mich so lebendig wie sonst nie.
Das macht sicher auch einen Teil des Reizes aus.
Im Bergsport kommt man an die körperlichen Grenzen – etwas, das wir im Alltag kaum mehr erleben. Doch wenn ich auf einer Tour bin, sehe ich nur noch den Gipfel und die Frage: «Wie komme ich da rauf?» Um die Aufgaben zu lösen, die sich unterwegs stellen, muss ich enorm konzentriert sein. Alles andere, alle Probleme sind weg. Es gibt nur noch den Felsen, die Gruppe und mich. Nach einer solchen Tour ist mein Kopf einfach frei. Weil ich alles aus der Distanz anschauen kann.
Sie würden also sagen, am Berg relativieren sich gewisse Dinge?
Ja, denn am Berg gibt es auch Krisensituationen. Da kann es ums Überleben gehen. Solche Erfahrungen bringen eine grosse mentale Stärke mit sich. Wenn ich von einer Tour zurückkomme, denke ich manchmal: Wenn ich diese Krise am Berg lösen konnte, dann kann ich dieses «Alltagsproblemli» noch lange bewältigen.
Was war die heikelste Situation, die Sie erlebt haben?
Ich war einmal mit einer Gruppe unterwegs, bei welcher eine Teilnehmerin mit der Tour überfordert war. Der Leiter befand sich zuvorderst, ich war hinten bei ihr. Wir waren viel zu langsam unterwegs, und ein Gewitter zog auf. Es brach aus, als wir auf dem Gipfel waren. Wir wussten nicht mehr, wie wir diese Frau den Berg runterbringen sollen. Auf dem Abstieg ist sie zweimal ausgerutscht. Einmal musste ich leicht zur Seite springen, um sie aufzufangen. Das war eine sehr kritische Situation.
Da haben Sie für die Frau Ihr Leben riskiert.
Ja, da hängt man dann gemeinsam drin. Wenn ich da nicht innerhalb einer Hundertstelsekunde reagiert hätte, wären wir weg gewesen. In solchen Situationen lernt man sich selbst gut kennen. Etwas Ähnliches hatte ich vorher nie erlebt. Doch da merkte ich: Ich blieb ruhig und konnte ziemlich gut mit der Situation umgehen. Viele Risiken kann man minimieren. Aber ohne Risiko ist das Bergsteigen nie.
Welche Eigenschaften braucht es sonst noch im Bergsport?
Viel Ausdauer, Entscheidungsfreudigkeit und Freude am Planen und Vorbereiten. Wir sind oft lange unterwegs – es können durchaus 10-12 Stunden am Stück sein. Bergsport ist physisch enorm anspruchsvoll. Zudem muss man pragmatisch sein. Manchmal hat man einfach Hunger oder Schmerzen. Das muss man aushalten können.
Sie nennen einige Eigenschaften, die typischerweise eher männlich konnotiert sind. Ist das Bergsteigen noch immer eine Männerdomäne?
Bei schwierigen Touren oder wenn es um die Leitung geht, dann sind es viel mehr Männer. Vielleicht deshalb, weil sich Frauen generell weniger zutrauen. Manchmal können sie etwas besser als die Männer, aber verkaufen sich fünfmal unter dem Preis. Ausserdem ist das Kompetitive, dieses «schneller, höher, besser», eher ein Männerding. Aber der Bergsport ist längst nicht mehr so klar eine Männerdomäne wie früher. Es sind heute viel mehr Frauen in den Bergen unterwegs.
Das beobachten Sie auch im SAC Weissenstein?
Ja. Heute sind 40 Prozent der Mitglieder Frauen. Wobei unter denen, die wirklich auf die Touren mitkommen, tendenziell mehr Männer sind.
Haben Sie schon Situationen erlebt, wo Ihre Kompetenz als Tourenleiterin wegen Ihres Geschlechts in Frage gestellt wurde?
Bei uns im Klub ist das bisher nicht vorgekommen. Ich habe auch schon reine Männergruppen geführt, von denen alle Teilnehmer viel länger zu Berg gehen als ich. Das schätze ich sehr bei uns im SAC: Wir begegnen uns alle auf Augenhöhe. In der Ausbildung zur Tourenleiterin habe ich jedoch auch anderes erlebt.
Was ist dort vorgefallen?
Ich war die einzige Frau im Kurs – zusammen mit elf jungen Männern. Der Bergführer, der uns anleitete, hat mich zu Anfang ein wenig schikaniert. Er war immer nur bei mir und hat mich gepusht. Am zweiten Tag musste ich stundenlang durch hüfttiefen Schnee spuren. Bei solchem Schnee geht man eigentlich nicht auf eine Hochtour. Und wenn schon, dann wechselt man sich vorne ab. Doch der Bergführer sagte sogar noch zu mir: Du bist zu langsam. Wenn du elf junge Männer führst, musst du schneller laufen.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich habe nichts gesagt und einfach mein Ding gemacht. Doch dann ist etwas Erstaunliches passiert: Meine elf Gruppenkollegen gingen geschlossen zum Leiter und sagten, sie seien nicht einverstanden, wie er mich behandle. Erstens sei ich die Beste der Gruppe. Und zweitens wollten sie auch vom Kurs profitieren. Von da an war es viel besser. Am Schluss habe ich mich mit dem Bergführer ausgesprochen. Danach war ich versöhnt mit der Situation, weil er auch etwas daraus gelernt hat.