Olten
Er erblindete schleichend über Jahrzehnte – und wurde Klavierstimmer

Als Kind bekam der Oltner Rolf Gschwend die Diagnose, dass er erblinden würde. Wann genau, wusste er damals nicht. Es dauerte Jahrzehnte, bis er schliesslich den letzten Rest an Sehkraft verlor. Er fand für sich einen Weg, und eine Arbeit, um damit umzugehen.

Raphael Karpf
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Rolf Gschwend hat schon in Tonhallen und Opernhäusern in der ganzen Schweiz Klaviere und Flügel gestimmt.

Rolf Gschwend hat schon in Tonhallen und Opernhäusern in der ganzen Schweiz Klaviere und Flügel gestimmt.

Hansjörg Sahli

Ein Mitarbeiter des Musikgeschäfts nimmt die schwarze Abdeckung des Flügels ab. Dann setzt sich Rolf Gschwend an das Instrument, tastet sich an den Wirbeln entlang und legt den Stimmschlüssel an. Dann drückt er sich durch die Tasten. Je nachdem wie zufrieden er mit einem Ton ist, hebt oder senkt er den Schlüssel. Gschwend ist gelernter Klavierstimmer. Er tritt im November eine neue Stelle in Zürich in einem Musikgeschäft an. Innerhalb des Ladens wird er dort arbeiten, für die Instrumente in den Ausstellungsräumen wird er verantwortlich sein. Er ist 57-jährig und wohnt in Olten.

Und er ist blind. Allerdings nicht seit klein auf. Bis zu seinem achten Lebensjahr sah er ganz normal. Dann, in Schaffhausen, bei der Grossmutter in den Ferien, bekam er zusammen mit seinem Bruder die Masern. Sein Bruder erholte sich, er erblindete. Erst nach einigen Wochen begann er, langsam wieder zu sehen. So gut wie zuvor sah er zwar nie mehr, aber er sah. Dann folgte die Diagnose: Retinitis pigmentosa. Eine unheilbare Krankheit, langsam würden seine Photorezeptoren absterben, nach und nach würde er erblinden. Wie schnell das passieren würde , war im Voraus jedoch nicht klar.

Zufällig beim Klavier gelandet

In diesem Bewusstsein wuchs er auf. Er machte eine Ausbildung im Bereich der Elektrotechnik. Eigentlich blödsinnig, sagt er heute. Schon damals war klar, dass er nicht lange mit kleinsten Teilchen und Käbelchen würde hantieren können. Er versuchte sein Glück in verschiedenen Jobs, und landete schliesslich, mehr oder weniger zufällig, bei den Klavieren.

«Da wusste ich: Das ist genau das. Hier kann ich selbstständig arbeiten und ich bin nicht den ganzen Tag im Büro.» Ganz ohne Einschränkungen ging es auf diesem Beruf nicht. Für die Ausbildung musste er vier Jahre nach Berlin, nur dort wurde sie für Sehbehinderte angeboten, und um die Instrumente bei den Menschen zu Hause zu stimmen, brauchte er jeweils einen Fahrer. Aber es blieb dabei, jahrelang arbeitete er als Klavierstimmer. Schliesslich sogar in Opernhäusern und Tonhallen. «Ich habe alles erlebt, was es auf dem Job zu erleben gibt. Es war eine gute Zeit, trotz allem. Und ich habe auch einige kurlige Sachen erlebt.»

So musste er zum Beispiel einmal für eine Band das Klavier stimmen. Auf der Bühne tummelte sich dann ein Orang-Utan. Es stellte sich heraus: Der Band-Leader hielt das Tier als Haustier. Der Affe musste zuerst weg, bevor sich Gschwend ans Klavierstimmen machen konnte.

«Manchmal hadere ich noch heute damit»

Seit zwölf Jahren ist Gschwend nun praktisch ganz blind. Nach einer heftigen Grippe verlor er auch die letzten paar Prozente an Sehkraft. Seither erkennt er auch keine Gesichter mehr. Damit habe er besonders zu kämpfen gehabt. «Manchmal hadere ich noch heute damit. Manchmal denke ich: Mein Gott, es wäre gut, wenn ich jetzt sehen könnte. Aber es ist nun Mal nicht so, also muss ich einen Weg finden, mit mir und dieser Eingeschränktheit klarzukommen.» Und schliesslich, erzählt er, könne er dem Ganzen fast auch etwas Gutes abgewinnen. Denn seit Gschwend nichts mehr sieht, sei er viel offener geworden, erzählt er.

Gezwungenermassen zwar, in manchen Dingen im Leben braucht er Unterstützung. Aber er habe gelernt, auf Leute zuzugehen, Hilfe anzunehmen. Der Flügel ist schon lange fertig gestimmt, der Espresso mittlerweile auch ausgetrunken. Bevor er geht, will Gschwend noch einen letzten Gedanken loswerden: «Das ganze Leben ist ein Risiko. Wir laufen so unbewusst, so oberflächlich herum. Wir machen so viele Pläne, dabei kann es am nächsten Tag jeden so treffen wie mich. Ich sage mir: Ich muss jetzt etwas machen, jetzt leben, nicht erst Morgen.»

Wie eine Expertin am heutigen Tag des weissen Stocks die Lage für Sehbehinderte einschätzt und wo sie Handlungsbedarf sieht, lesen sie hier.