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Als gefährdeter und scheuer Kulturflüchter wäre die Wildkatze anfangs des 20. Jahrhunderts beinahe ausgerottet worden. Jetzt hat die kleine Beutegreiferin reelle Überlebenschancen.
Wohl selten ist ein Wildtier vom Menschen in früheren Zeiten derart systematisch verleumdet worden wie die Wildkatze. Man stellte sie als gierigen Räuber dar, Gewicht und Grösse wurden masslos übertrieben, ihr Verbreitungsgebiet überdimensioniert angegeben. Als Beutetiere wurde Niederwild frei erfunden und somit der Speisezettel gezielt verfälscht. «Die echte wilde Katze ist ein unheimliches Thier und gewährt einen fast abschreckenden Anblick», schrieb beispielsweise Friedrich von Tschudi 1853 in seinem grundlegenden Werk «Thierleben der Alpenwelt» und riet dabei dem Jäger «die Bestie genau aufs Korn» zu nehmen.
Erst in den letzten Jahrzehnten zeichnete sich eine Trendwende in der Denkart ab. Dies aufgrund verschiedener Forschungsarbeiten über die Biologie der Wildkatze. Ihre Unschädlichkeit für Mensch und Wild darf heute als erwiesen gelten. 1962 wurde die Wildkatze unter Bundesschutz gestellt.
Über die Biologie der Europäischen Wildkatze ist heute erst wenig bekannt. Sie lebt weitgehend als Einzelgänger. Nur zur Ranzzeit – gegen Ende des Winters – finden die Geschlechter zueinander. Während in der kalten Jahreszeit Erdhöhlen als Unterschlupf dienen, wird die Wochenstube oberirdisch im Unterholz angelegt, geschützt unter Ästen oder zwischen Wurzeln. Hier setzt die Kätzin nach rund 68 Tagen Tragzeit im April oder Mai zwei bis fünf Junge von 80 bis 120 Gramm Geburtsgewicht – süsse, kleine Wildkätzchen. Über die Gewichte ausgewachsener Tiere halten sich in der Literatur immer noch fabulöse Werte von 12 bis 18 Kilo, was wohl eher einem Dachs entspricht. In Wirklichkeit übertrifft die Wildkatze die Hauskatze um nur rund ein Kilo. Kuder, das heisst Kater, wiegen 5 bis 7, Kätzinnen 3 bis 5 Kilo.
Wenn auch die Herkunft der weltweit verbreiteten Hauskatze noch immer nicht hundertprozentig geklärt ist, so gilt es doch als fast sicher, dass die Europäische Wildkatze als Ahne nicht infrage kommt. Sie sind sich aber nahe verwandt und gelegentlich kommt es zur freiwilligen Kreuzung zwischen Wild- und Hauskatze. Die Jungen aus solchen Verbindungen heissen Blendlinge.
Die Unterscheidung getigerter und somit «wildfarbener» Hauskatzen von echten Wildkatzen ist selbst für Fachleute nicht einfach. Neben äusseren Merkmalen werden solche an Schädel und Weichteilen einbezogen. Dazu kommen elektronenmikroskopische Haaranalysen, biochemische Bluteiweiss-Bestimmungen und molekularbiologische Untersuchungen. All diese Kriterien erlauben es, selbst alte Museumsstücke zu definieren. Dabei stiess man auf etliche «Blindgänger», die schliesslich als simple Hauskatzen entlarvt wurden. Dank moderner Genanalysen – für die eine Haarprobe genügt – ist die Differenzierung zwischen verwilderter Haus- und echter Wildkatze heute viel einfacher und präziser, da sich verschiedene Genfrequenzen deutlich unterscheiden.
Im 16. Jahrhundert war die Wildkatze noch weit verbreitet. Dann lichtete sich ihr Bestand zunehmend. Im 19. Jahrhundert war sie bereits selten, und um die Mitte des 20. Jahrhunderts hielten sie verschiedene Autoren im Gebiet der Schweiz für ausgestorben. Wahrscheinlich jedoch – so nimmt man heute an – war sie in den Wäldern der Waadt und des Juras nie gänzlich verschwunden. Denn plötzlich tauchte die Totgeglaubte wieder auf: 1958 ein erster Nachweis in der Waadt, später zwei irrtümliche Abschüsse bei der Fuchsjagd im Jura (1969 in Cornol und 1970 bei Movelier).
Inzwischen wurden allein im Naturhistorischen Museum Bern rund ein Dutzend tot eingelieferte Tiere als Wildkatzen identifiziert. Die meisten davon kamen aus den Kantonen Bern und Jura, eine aus dem Neuenburger und drei aus dem Solothurner Jura. Von diesen Letzteren stammen zwei aus dem Raum Oberbuchsiten am Fusse des Roggen.
Im Winter 2005/06 fand man ein von einem Auto tödlich verletztes Tier bei Nenzlingen im Laufental, keine zwanzig Kilometer vor den Toren von Basel. Die Wildkatze darf also wieder zur einheimischen Fauna gerechnet werden.
Informations-Recycling aus Abfall der Natur könnte man das nennen, was naturhistorische Museen mit anfallenden Kadavern von eindeutigen Wildkatzen machen. An überfahren aufgefundenen oder sonst verendet eingelieferten Tierkörpern wird der Mageninhalt analysiert. Eine fast kriminalistische Arbeit, die wesentliche Rückschlüsse auf Lebens- und Fressgewohnheiten erlaubt und ökobiologische Interpretationen punkto Stellenwert der Wildkatze innerhalb des faunistischen Gefüges der Natur zulässt.
Gerade bei einer spärlich vorkommenden Tierart sind solch zufällig und damit kostengünstig greifbare Daten höchst wertvoll. Erstaunlich ist, was solche Totenzoologie über das Leben aussagen kann. Bei acht von neun am Naturhistorischen Museum Bern untersuchten Kadavern aus dem Jura handelte es sich um männliche Tiere. Alle Unfalltoten datierten von September bis März. Kuder sind im Winterhalbjahr also häufiger auf Wanderschaft als im Sommer, und sie weisen mehr Mobilität auf als Kätzinnen, da sie auch grössere Reviere abdecken – zum Teil über hundert Hektaren.
Bevorzugter Lebensraum der Wildkatzen sind locker zusammenhängende, von Lichtungen durchsetzte Misch- oder Laubwälder mit viel Sonneneinstrahlung und warmen Felsplatten; denn Wildkatzen lieben, gleich den zivilisierten Samtpfötigen, das wohlige Sonnenbad. In schneereichen Wintern sucht die Wildkatze gelegentlich Unterschlupf in einem Fuchs- oder Dachsbau. Das kann ihr zum Verhängnis werden, wenn sie beim Heraussprengen mittels Hunden ungewollt vor die Jagdflinte gerät. Diskutiert wird immer wieder der angebliche Schaden der Wildkatze am Jagdwild. Deshalb interessiert ihr Speisezettel ganz besonders.
Dabei sprechen die Tatsachen für sich: In acht untersuchten Wildkatzenmägen fand man neben einem Hühnerkopf und Resten eines Eichhörnchens vor allem Kleinnager. Somit steht fest, dass kleine Nagetiere die Hauptnahrung der Wildkatzen darstellen und die Beute einerseits aus dem Bereich von Wald und Waldlichtungen (Wald-, Erd- und Rötelmaus), andererseits vom offenen Feld (Feld- und Schermaus) stammt.
Noch heute weiss niemand Genaueres über den Gesamtbestand der Wildkatze. Wahrscheinlich dürften es in der Westschweiz und im Jura nur wenige Dutzend Individuen sein; doch die Erforschung des scheuen Waldbewohners ist schwierig. Deshalb liess sich der Rodersdorfer Wildbiologe Darius Weber etwas Intelligentes einfallen: Statt die ohnehin nur spärlichen Tiere mit gewaltsamen Einfang- und Besenderungsaktionen noch zusätzlich und nachhaltig zu stören, setzt er auf Trappermanier. In Zusammenarbeit mit Wildhütern und Jägern führte er als Pilotversuch im Baselbiet, im Bereich des Blauen in einer siebzig Quadratkilometer grossen Geländekammer eine tierschonende Bestandesaufnahme durch. Zu diesem Zweck positioniert und kontrolliert er entlang vermuteter Wildkatzen-Wechsel Dachlattenpfähle, die er vorher mit Baldriantinktur markiert hat. Bekanntlich werden Katzen davon magisch angezogen. Ein Infrarotsensor lässt die Besucher dann in die Fotofalle tappen.
Und tatsächlich: Neben Mardern und streunenden Hauskatzen gelang bereits auch der fotografische Nachweis der Wildkatze. Mehr noch: Weil sich diese am Duftstecklein rieb, kam man auf elegante Art auch gleich zu einer Haarprobe für die genetische Analyse. Falls sich diese simple und zudem äusserst kostengünstige Methode als zielführend erweisen sollte, gedenkt man sie dann im ganzen Verbreitungsgebiet der Wildkatze anzuwenden, um endlich den Gesamtbestand dieser wenig bekannten Tierart zu erfassen.
Heini Hofmann* war Zootierarzt und arbeitet heute als freier Wissenschaftspublizist.