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Eine Umfrage innerhalb der Lehrerschaft benennt Baustellen, die schwierig zu bewältigen sind. Roland Misteli, Geschäftsführer des Verbands Lehrerinnen und Lehrer Solothurn (LSO): «Eine Reform, die wirklich funktionieren soll, müsste zum jetzigen Zeitpunkt über eine höhere Zufriedenheitsquote verfügen.»
In den meisten Schulen im Kanton, ob in der Primarschule oder auf der Sekundarstufe I, ist das Prinzip der Integration seit vielen Jahren Realität. Schülerinnen und Schüler mit einer Lernschwäche oder auch Verhaltensauffälligkeiten sind in die Regelklassen integriert und werden im Rahmen von Förderlektionen gezielt unterstützt.
Die Klassenlehrpersonen erhalten dabei während einer bestimmten Anzahl Lektionen pro Woche Unterstützung von Förderlehrpersonen, die mit ihnen zusammen den Unterricht bestreiten. Trotz der langen Zeit und obwohl sich viele Abläufe eingespielt haben, gleicht die Spezielle Förderung immer noch einer Baustelle.
Das legt eine Umfrage offen, die der Verband der Lehrerinnen und Lehrer Solothurn (LSO) durchgeführt hat. Im Gespräch mit dieser Zeitung analysiert LSO-Geschäftsführer Roland Misteli die Ergebnisse. Die zentrale Erkenntnis: Die gesellschaftspolitische Vision einer Schule für möglichst viele kommt an ihre Grenzen.
Seit 2011 sind im Kanton Solothurn gesetzlichen Grundlagen in Kraft, welche die Integration zum Credo erheben. Deren flächendeckende Umsetzung soll nach dem erneuten Schulversuch, der noch bis Ende 2018 dauert, erfolgen. Auch für Roland Misteli, der der Integration im Grundsatz positiv gegenüber steht, ist nicht ausgeschlossen, dass es eine Anpassung des Gesetzes braucht.
Roland Misteli: Die Einschätzung der Lehrerinnen und Lehrer ist sehr differenziert. Ein Teil macht gute bis sehr gute Erfahrungen mit der Speziellen Förderung. Es gibt aber auch einen grösseren Teil, der sich mit der integrativen Schule mehr oder weniger arrangiert hat. Man macht es halt, weil man muss. Und immerhin ein Fünftel der Lehrerschaft ist grundsätzlich negativ eingestellt.
Der Prozentsatz jener, die mit der jetzigen Situation zufrieden sind, hat klar zugenommen. Es wurden in der Zwischenzeit auch einige Verbesserungen vorgenommen. Man hat zum Beispiel das System der Förderstufen vereinfacht. Weiter ist die Anzahl der Förderlektionen etwas erhöht worden. Über die Zeit haben sich zudem die Abläufe besser eingespielt, die Lehrkräfte konnten Erfahrungen sammeln. Und auch die Zusammenarbeit zwischen den Lehrpersonen funktioniert heute sehr gut. Dennoch sind aber nur 30 Prozent rundum zufrieden. Gleichzeitig hat auch der Prozentsatz jener, die die integrative Schule grundsätzlich ablehnen, zugenommen.
Eindeutig. Eine Reform, die wirklich funktionieren soll, müsste zum jetzigen Zeitpunkt über eine höhere Zufriedenheitsquote verfügen.
Das ist sicher das erstaunlichste und wichtigste Ergebnis der Umfrage. Im Grundsatz befürwortete die Lehrerschaft die Integration. Aber mit der Umsetzung ist man nicht zufrieden. Das hat mit den Rahmenbedingungen zu tun.
Man kann alle Kinder und Jugendlichen integrieren, wenn man das will. Aber dafür braucht es die richtigen Rahmenbedingungen. Neben dem nötigen Knowhow und der Bereitschaft der Lehrerschaft und Schulleitungen ist in erster Linie genügend Zeit erforderlich. Wenn in einer Klasse mit 22 Kindern mehrere Schüler mit speziellem Förderbedarf integriert sind, dann geht das ganz einfach nicht ohne zusätzliche Förderlektionen.
Es gibt zwei Möglichkeiten. Zum einen kann man den Pensenpool vergrössern, sodass die Lehrerinnen und Lehrer mehr Lektion zusammen mit einer spezialisierten Lehrperson bestreiten können. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Klassen zu verkleinern. Beide Alternativen kosten aber ziemlich viel Geld.
Dann bleibt nur der Schluss, dass wir den Anspruch reduzieren und die Integration nicht so umfassend umsetzen, wie man sich das zu Beginn vorgestellt hat. Und das heisst: Man muss wieder separative Formen ermöglichen.
Zum Beispiel wäre es möglich, in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen Niveaugruppen einzuführen. Das funktioniert allerdings nur in grösseren Schulen. Ebenfalls an grösseren Schulen könnte man eine von mehreren Parallelklassen im Sinne einer Förderklasse führen. Sehr viele Lehrpersonen wünschen sich zudem Einschulungsklassen, um die oft grossen entwicklungsbedingten Unterschiede der ganz Kleinen auffangen zu können.
Das ist ein stark wachsendes Problem. Für die schwersten Fälle bieten die Regionalen Kleinklassen eine Lösung an. Probleme bereitet der Lehrerschaft aber vor allem ein mittleres Segment von verhaltensauffälligen Schülern. Der Unterricht leidet darunter, auch kommt es immer wieder zu Mobbing-Fällen. Für solche Situationen gibt es immer noch keine befriedigende Lösung. Nur wenige Schulen richten Schulinseln ein, weil sie befürchten, dass ihnen dann in den übrigen Klassen die Förderlektionen fehlen.
Bis jetzt ist man zu stark von der Idee der Integration ausgegangen. Der Kanton muss gemäss unserer Einschätzung nach Ablauf des erneuten Schulversuchs weiterhin separative Formen zulassen. Und zwar braucht es ein definiertes Set solcher Möglichkeiten, aus denen die Schulträger wählen können. Da die Gegebenheiten vor Ort sehr unterschiedlich sind, machen einheitliche Vorgaben des Kantons wenig Sinn. Ich möchte mich auch noch nicht auf die Art der Separation festlegen, die Diskussion darüber muss jetzt geführt werden. Gefragt sind ganz besonders auch die Gemeinden. Sie müssen neben den Finanzen immer auch die Qualität ihrer Schule im Blick haben.
Zurzeit haben die Lehrpersonen ein enorm breites Leistungsspektrum in ihren Klassen zu bewältigen. Das aber stellt hohe Anforderungen an den differenzierenden Unterricht. Besonders deutlich wird das in der Sek B, in der ehemalige mittlere Sekundarschüler neben früheren Werkklässlern sitzen. Ich könnte mir gerade hier zwei Niveaustufen vorstellen. Dass sich viele Lehrpersonen stark belastet fühlen, hat auch damit zu tun, dass die Lehrmittel bei der Differenzierung des Unterrichts noch zu wenig Unterstützung bieten.
Es geht uns um massgeschneiderte Lösungen, um ein Mischsystem, um Separation innerhalb der Integration. Ich kann momentan nicht sagen, ob es dafür eine Gesetzesänderung braucht. Man kann möglicherweise auch auf dem Verordnungsweg eine Palette separativer Formen definieren. Der Weg der Integration ist für uns nach wie vor richtig. Die Integration ist zudem eine Vorgabe der Verfassung. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass die Schule für alle kaum vollständig realisiert werden kann. Integration hat ihre Grenzen. Die Frage ist einfach, wo wir diese Grenze ziehen. Und das hat mit den finanziellen Möglichkeiten zu tun.
Wir dürfen uns keine Illusionen machen, es gibt auch jetzt noch gewisse Stigmatisierungen. Durch die integrative Schule haben diese aber klar abgenommen. Und wenn künftig wieder gewisse separative Formen eingeführt werden, darf das beispielsweise natürlich nicht dazu führen, dass ein Schüler wieder in einem anderen Dorf in die Schule gehen muss.
Das ist vor allem deshalb aussergewöhnlich, weil sich die Förderlehrpersonen bei vielen Fragen in aller Regel mit einem hohen Prozentsatz für die integrative Schule aussprechen. Erstaunlich ist zudem, dass sich gerade auch ein beträchtlicher Anteil jüngerer Lehrkräfte für separative Formen ausspricht.
Aus der Sicht der Lehrerschaft ist das so. Ein hoher Prozentsatz von über 60 Prozent ist sogar der Meinung, dass auch Schüler ohne Förderbedarf von der Integration profitieren. In einem gewissen Widerspruch dazu steht allerdings, dass über 50 Prozent davon überzeugt sind, dass die integrative Schule ausschliesslich den leistungsschwächeren Schülern etwas bringt.