Kanton Solothurn
Bis zur Selbstständigkeit: Sie coacht minderjährige Asylsuchende

2016 lancierte der Kanton ein Pilotprojekt für minderjährige Asylsuchende. Heute zieht Sozialarbeiterin Sophia Egli eine positive Bilanz.

Noëlle Karpf
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Während Corona coacht Sophia Egli mit Maske, per Whatsapp und Videocall.

Während Corona coacht Sophia Egli mit Maske, per Whatsapp und Videocall.

Hanspeter Bärtschi

2015 und 2016 erlebte Europa die Flüchtlingswelle. Rund fünf Jahre später steht das Stichwort Integration im Vordergrund; Menschen, die hierhin geflüchtet sind, sollen Teil der Gesellschaft werden. Alleinreisende Minderjährige – MNA – gelten dabei als besonders schutzbedürftige Gruppe. Und: «Sie haben ein Recht auf persönliche Förderung», fasst Sophia Egli zusammen. Egli ist Sozialarbeiterin bei der ORS – der Firma, die im Auftrag des Kantons Solothurn die Betreuung und das Coaching von eben genau dieser Gruppe übernimmt.

Über 130 MNA hat ORS seit dem 2016 ins Leben gerufenen Coachingprogramm im Kanton Solothurn begleitet. Nach der Zuweisung vom Bund in den Kanton kommen die Jugendlichen zuerst im kantonalen Asylzentrum unter, bevor sie auf die Gemeinden verteilt werden. Dann beginnt für sie das Coaching durch ORS. Sie lernen (besser) Deutsch, werden zum Arzt, aber auch beim Lösen eines SBB-Tickets oder beim Bedienen einer Waschmaschine begleitet. Auch bei der Lehrstellensuche werden die MNA unterstützt.

Rund ein Viertel der Teilnehmenden – diejenigen, die noch im schulpflichtigen Alter sind – lebt bei Pflegefamilien. Alle anderen zu viert oder fünft in WGs, die ORS im ganzen Kanton gemietet hat. Das Ziel des Coachings fasst Egli so zusammen: «Wir wollen, dass sie den Sprung in die Selbstständigkeit schaffen.» So tritt ein MNA aus dem Programm aus, wenn er oder sie beispielsweise auch nicht mehr abhängig von Sozialhilfe ist.

Durch Coaching «Boden unter den Füssen gewinnen»

Entsprechend sei die berufliche Integration ein wichtiger Teil des Programms, erklärt die Sozialarbeiterin aus Lohn-Ammannsegg. «Für viele ist eine Lehrstelle das Katapult in ein selbstständiges Leben», so Egli. Aber: Man begleite in allen Bereichen des Lebens, also auch wenn es um Wohnen, Gesundheit oder soziale Kontakte geht. «Gerade zu Beginn des Coachings stehen die Gesundheit, Sprachkompetenz und Freizeitgestaltung im Zentrum», erklärt Egli weiter. «Sie bieten dann Zugang zu Schulen, Integrationsprogrammen – aber auch zu einem Fussballverein.» Diese Beziehungen wiederum würden dann auch bei der Lehrstellensuche helfen.

Egli betont gleichzeitig: «Wir gehen bei jeder Begleitung individuell und Schritt für Schritt vorwärts.» Erfolg zeige sich entsprechend auf verschiedene Art und Weise. Ziel des Coachings sei auch, dass die jungen Menschen nach der Ankunft in der Schweiz «Boden unter den Füssen gewinnen». An erster Stelle stehe für die Ankommenden die Frage «Wo schlafe ich?», bevor es um die Ausbildung gehe. «Wenn es jemandem schlecht geht und

er vielleicht nicht so belastbar ist, kann er oder sie beruflich nicht erfolgreich sein.» Ein Erfolg sei es in solchen Situationen deshalb, erst einmal ärztliche Abklärungen zu machen und ein stabiles Umfeld aufzubauen.

Was 2016 als Pilotprojekt startete, ist heute als Coaching im Kanton verankert. Egli zieht über das Programm, das auch das Ziel hatte, Sozialdienste zu entlasten, positive Bilanz. «Ich habe grossen Respekt vor diesen jungen Menschen und davor, was sie leisten.» Gleichzeitig ist die Sozialarbeiterin stolz auf alles, was in den letzten Jahren durch die ORS-Arbeit erreicht werden konnte. «Heute haben wir für sehr viele Szenarien, für welche wir zu Beginn schlicht keine Konzepte hatten, sozusagen Betty-Bossy-Rezepte.» Ein Beispiel: Irgendwann habe man unerwartet mit den ersten schwangeren Teilnehmerinnen zu tun gehabt. Dafür wurde in einer bestehenden Pflegefamilie dann eine Frauen-Mutter-WG gegründet; dieses Angebot ist heute der zugehörigen Sozialregion angegliedert.

Trotz aller positiver Bilanz – schwierige Situationen gibt es immer wieder. Schliesslich, so erinnert Egli, geht es um teilweise traumatisierte Jugendliche, die ihre Familie zurückgelassen haben, allein in ein fremdes Land gereist sind. «Wir begleiten auch immer wieder bei persönlichen Krisen», so die Sozialarbeiterin. «Als die Kämpfe in Afghanistan jüngst wieder zugenommen haben, haben wir das stark gespürt.» Die Mehrheit der betreuten MNA stammt aus Afghanistan und Eritrea. Und manchmal gelinge der Schritt in die Ausbildung auch gar nicht. Etwa dann, wenn MNA schon kurz vor der Volljährigkeit stehen, weder lesen noch schreiben können und noch nie eine Schule besucht haben. «Dann aber konzentrieren wir uns auf andere Stärken der Jugendlichen, auch das verhilft zur Selbstständigkeit und damit zum Selbstwert.» Etwa in Form einer anderen Anstellung.

Ob die Integration – in eine Lehrstelle, ein Integrationsprogramm oder eine Festanstellung im Job – nachhaltig ist, wird nicht evaluiert. Aber: «Die Jungen sind gut vernetzt, immer wieder hören wir auf verschiedenen Kanälen von ehemaligen Teilnehmenden.» Vor ein paar Tagen habe sie zudem einen zufriedenen Ehemaligen im Bus gesehen. Vor zwei Wochen habe sie ein Ehemaliger um die Teilnahme an einer Umfrage gebeten – im Rahmen seiner Lehrabschlussarbeit.