Schweiz-EU
Beide Seiten sollten das Zeitfenster nutzen

Wie weiter in der verfahrenen Situation zwischen der Schweiz und der EU? Hinter den Kulissen läuft vieles in die richtige Richtung - wichtig ist nun, dass beide Seiten den Weg freimachen für Verhandlungen. Die Zeit drängt. Ein Gastbeitrag des Präsidenten von «Lucerne Dialogue».

Marcel Stalder
Marcel Stalder
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EU-Kommissionsvizepräsident Maros Šefčovič (3. v. l.) vergangene Woche in Brüssel, u.a. mit unserem Gastautor Marcel Stalder (2. v. l.)

EU-Kommissionsvizepräsident Maros Šefčovič (3. v. l.) vergangene Woche in Brüssel, u.a. mit unserem Gastautor Marcel Stalder (2. v. l.)

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Unter den zehn wertvollsten Unternehmen der Welt befinden sich heute ausschliesslich US- und chinesische Technologiekonzerne. Europa verliert an Boden. Geopolitisch sind wir am Ende des Multilateralismus. Wir nähern uns einer bipolaren Weltordnung mit USA und China als den beiden Polen. Ein Systemwettbewerb zwischen Staatskapitalismus und freier Marktwirtschaft. Ein starkes Europa, ein starker dritter Pol, ein Vorreiter einer zukunftsfähigen sozial-ökologischen Wirtschaftspolitik wäre aber gerade jetzt von grosser Bedeutung. Ein Europa, das zwischen den beiden Polen USA und China vermitteln kann, gestützt auf unsere europäischen Werte wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.

Kann die Schweiz angesichts der grossen globalen Herausforderungen im Alleingang ihren Wohlstand halten? Der Glaube daran ist eine Position zwischen Naivität und Arroganz. Zumal die Schweiz durch ihr Verhalten gerade ihren Finanzplatz, ihre Rüstungsindustrie und ihren Werkplatz nachhaltig gefährdet. Die Schweiz und die EU bilden eine Schicksalsgemeinschaft – eine geregelte Partnerschaft ist für beide Seiten dringender als je zuvor.

Mit dem einseitigen Abbruch der Verhandlungen des Rahmenabkommens Schweiz–EU hat der Bundesrat die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten vor den Kopf gestossen. Es ging viel Vertrauen verloren. Man ist genervt, dass die Schweiz am Europäischen Binnenmarkt teilnehmen will, aber sich so schwertut, die gemeinsamen Regeln zu akzeptieren, welche für den Handel auf diesem Markt gelten.

Die EU hat verstanden

EU-Kommissionsvizepräsident Maros Šefčovič hat jedoch verstanden, dass derzeit die Verhandlung eines Rahmenabkommens nicht zielführend ist und die Schweiz an der Verhandlung von vertikalen, sektoriellen Fragen interessiert ist. Er macht beim Treffen mit «Lucerne Dialogue» vergangene Woche aber zugleich klar: Zuerst werden die institutionellen Fragen gelöst, wie etwa die Personenfreizügigkeit, erst dann kann man über sektorielle Themen verhandeln.

Am 21. September werden die Sondierungsgespräche weitergeführt. Danach muss der Bundesrat ein Mandat für Verhandlungen erteilen. Die EU erwartet diesen Schritt im Anschluss an die Schweizer Parlaments- und Bundesratswahl. Andererseits muss Maros Šefčovič seinerseits für ein Verhandlungsmandat kämpfen und die Mitgliedsstaaten von der Ernsthaftigkeit der Schweiz an einem Verhandlungserfolg überzeugen.

Grösstes Hindernis für einen Verhandlungserfolg ist das knappe Zeitfenster welches sich im Sommer 2024 aufgrund der EU-Wahlen schliesst. Nachteilig ist der Rauswurf der Schweiz aus dem Forschungsprogramm Horizon. Auf Druck reagieren Schweizer Stimmbürger bekanntlich mit Trotz, nicht mit Beigeben. Bestehende Mythen in den Köpfen der Schweizer wie «Fremde Richter», «die kleine Schweiz in der grossen EU» oder «das Problem des EU-Verwaltungsapparates» werden dadurch nur bestätigt. Tatsächlich wird der Europäische Gerichtshof nie über einen Schweizer Bürgen richten, nur EU-Recht auslegen, wie das Schweizer Bundesgericht immer Schweizer Recht auslegen wird.

Rechtsunsicherheit ist Gift

Der jetzige Zustand bringt Rechtsunsicherheit, dies ist Gift für Investitionen, abnehmende Investitionen sind schlecht für wirtschaftlichen Aufschwung und das kostet Arbeitsplätze. Wir sind eine Exportnation, freier Zugang zu den grössten Weltmärkten ist für die künftige Prosperität der Schweiz zentral.

Aufgrund der unterschiedlichen politischen Systeme kann das Ziel nicht eine EU-Mitgliedschaft sein, sondern eine vertraglich gestützte kooperative Assoziation, rechtssicher und zukunftsfähig. Dazu müssen beide Seiten, die EU und die Schweiz, bereit sein, auf Augenhöhe nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben. Die EU muss auf Machtpolitik und sachfremde Verknüpfungen verzichten, die Schweiz bereit sein für sachlogische Kompromisse. Packen wir die historische Chance – ein wichtiger Schritt zur Sicherung der Prosperität der Schweiz und der Stärkung Europas!

Marcel Stalder

*Der Gastautor ist Group CEO von Chain IQ und Präsident des «Lucerne Dialogue». einer politisch unabhängigen Plattform, die sich für eine starke Schweiz und ein starkes Europa sowie geregelte Beziehungen Schweiz-EU einsetzt. Die Organisation führt eine jährliche Studienreise in eine europäische Metropole durch - dieses Jahr was es Brüssel. Im Zentrum standen ein einstündiger Austausch mit dem Executive Vice-President der Europäischen Kommission Maros Šefčovič sowie mit Jurai Nociar, dem Kabinettchef der EU-Kommissionsmitglieder.