Der langjährige Direktor der Abteilung für das Höhere Lehramt der Universität Bern, Peter Bonati, kritisiert den Lehrplan 21. Für den Experten enthält das Dokument zu wenig für den Unterricht verwendbare Inhalte.
Peter Bonati ist der ideale Auskunftgeber für den Lehrplan 21: Der langjährige Direktor der Abteilung für das Höhere Lehramt der Universität Bern war bei der Erarbeitung des Lehrplans 21 (LP 21) nicht dabei, ist also in seinem Urteil frei. Aber er ist ausgewiesener Lehrplanfachmann. So hat er als freiberuflicher Berater die Gymnasiums-Lehrpläne der Kantone Aargau und Solothurn geprägt. Basel-Stadt hat sein Konzept übernommen. Bei allen spielt die Kompetenzorientierung eine Rolle. Ebenso geht der Rahmenlehrplan des Bundes für die Berufsmaturität auf sein Lehrplanmodell zurück. Auch dieser ist kompetenzorientiert. Im Kanton Luzern hat Bonati zudem die Umsetzung dieses Lehrplans begleitet.
Peter Bonati: Wer etwas gut beherrscht, ist kompetent. Im Lehrplan wird der Begriff ähnlich verwendet wie im Alltag, indem die Unterrichtsziele als Kompetenzen beschrieben werden. Der Kompetenzbegriff ist vor 15 Jahren vom deutschen Erziehungswissenschafter Franz Weinert entwickelt worden. Nach ihm sind Kompetenzen die für Schule und Leben wichtigen intellektuellen, emotionalen und motivationalen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die psychischen Ressourcen sowie das Wissen. In den letzten zwölf Jahren haben Kompetenzen auf breiter Front Eingang in die Lehrpläne gefunden, vor allem in jene auf der Sekundarstufe II (Gymnasium und Berufsbildung). Der LP 21 zieht nun für die Volksschule nach.
Nein. Er hat Stärken und Schwächen. Zu den Schwächen zähle ich, dass er etwas einseitig kompetenzorientiert ist. Ein idealer Lehrplan verknüpft Kompetenzen mit Unterrichtsinhalten. Es sind noch immer die Inhalte, welche die Kinder und Jugendlichen bilden. Was muss ich in welcher Abfolge im Unterricht durchnehmen, damit die Kompetenzen erreicht werden? Die Inhalte sind zwar schon auch da, aber zum Teil etwas knapp gehalten, zum Teil verstreut. Dadurch wird die direkte Anwendbarkeit durch die Lehrerinnen und Lehrer erschwert.
Das Dokument ist tatsächlich zum Teil unübersichtlich im Aufbau und thematisch überladen. Anderseits: Er ist eine systematische Kompetenzen-Sammlung für die ganze Volksschule, das ist eine seiner Stärken. Man spürt, dass bei der Erarbeitung viele, vielleicht zu viele Experten aus allen Fachbereichen mitgearbeitet haben. Aber dann fehlte wohl etwas die ordnende Hand, die auf Übersichtlichkeit und Anwendbarkeit gepocht hätte.
Diese Kritik teile ich nicht. Natürlich: Ein Lehrplan nimmt Rücksicht auf die Veränderungen von Umwelt und Gesellschaft. Darum erneuert man ihn ja auch periodisch. So wird etwa der Fachbereich «Natur, Mensch und Gesellschaft» aufgewertet, das Thema Ökologie und nachhaltige Entwicklung erhält mehr Gewicht. Oder es gibt ein Modul «Medien und Informatik». Dafür ist es ja höchste Zeit, nachdem schon Kindergärtler mit Handy und Tablet hantieren. In unserer multikulturellen Welt ist es auch richtig, dass der LP 21 andere Kulturen und Religionen mit Toleranz behandelt.
Die Kompetenzen werden als Grundansprüche verstanden, den Lehrpersonen bleibt durchaus Spielraum für die Unterrichtsgestaltung. Und zur «Test-Manie»: Es kommt darauf an, was man aus den Testergebnissen macht. Wenn sie nicht zum Lamentieren, sondern als Impuls für den künftigen Unterricht verwendet werden, ist es gut. Mit Pisa ist es in der Schweiz gut gelaufen. Man hat reagiert.
Ich zweifle. Allein mit Abspecken verschwinden die konzeptionellen Schwächen ja nicht. Die direkte Anwendbarkeit durch die Lehrkräfte steigt erst, wenn die Unterrichtsinhalte mehr Platz erhalten.
Ja. Nun müssen diese halt die weitere Arbeit leisten.
Ich hätte es begrüsst, wenn erste Umsetzungsschritte, vor allem Schritte zur Anwendbarkeit durch die Lehrpersonen, noch zentral erfolgt wären.
Zunächst müssen sie sich genügend Zeit geben. Wer den LP 21 bereits 2015 einführen will, hat zu wenig Zeit. Wer ihn 2017 einführt, liegt vermutlich richtig, zwei bis drei Jahre dauern die Arbeiten schon.
Zunächst müssen die Kantone die politischen Voraussetzungen schaffen und die finanziellen Mittel sicherstellen. Dann braucht es ein konkretes Umsetzungsprojekt mit einem Projektleiter. Ziel sind unterrichtstaugliche Schullehrpläne – das ist die Hauptarbeit. Sodann müssen die Lehrmittel und Unterrichtsmaterialien angepasst und schliesslich die Lehrpersonen auf die Neuerungen vorbereitet werden.
Nein. Der LP 21 bietet einen Orientierungsrahmen. Wichtig ist jetzt: Haltet die Schullehrpläne einfach und übersichtlich. Was ist zu unterrichten? Welche Ziele müssen erreicht werden? Dann machen die Lehrpersonen mit. Sonst reagieren sie kopfscheu. Moses ist auch nur mit zwei Gesetzestafeln vom Berg Sinai hinuntergestiegen, nicht mit einer Wagenladung voll.