Die TV-Krimiserie "Tatort" soll mitschuldig sein am Germanwings-Absturz, weil das selbstmörderische Ende auch der Inhalt eines Tatorts gewesen sein könnte. Was sollen wir davon halten?
Diesmal ist es der «Tatort». Er sei schuld – oder zumindest mitschuldig – dass Co-Pilot Andreas Lubitz die Maschine der Germanwings zum Absturz brachte und bei seinem Selbstmord 149 Menschen mit in den Tod riss. Die These tönt abstrus, war aber diese Woche in der seriösen «Süddeutschen» zu lesen. «Was könnte den Mann animiert haben?, fragt Professor Ernst Engelke. Seine Antwort: die Krimiflut und die Verherrlichung des Freitodes – vor allem aber der «Tatort». «Das tödliche Ende des Fluges 4U 9525 könnte der Inhalt eines Tatorts gewesen sein.»
Ob der Co-Pilot den «Tatort» regelmässig geschaut habe, sei unwichtig. Gekannt habe er ihn. Denn jeden Sonntagabend liessen sich Millionen Menschen durch den «Tatort», durch Mord- und Totschlag unterhalten. Aber es ist ja noch weit schlimmer, als der Professor schreibt: Krimis gehören dank der heutigen Senderauswahl und Netzangebote gar zum alltäglichen Zeitvertreib. Kommt dazu, dass auch Krimis zum Lesen boomen.
Soll man nun die «Tatort»-These einfach als unsinnig abtun? Oder gar noch etwas besserwisserisch anfügen: Wenn man den Co-Piloten schon als Nachahmer-Täter sehen will, ist der «Tatort» die falsche Anklage. Eine tatsächlich schockierende Ähnlichkeit mit dem Germanwings-Absturz findet sich im argentinischen Film «Wild Tales – Jeder dreht mal durch». Er begeisterte diesen Januar bei uns die Kinogänger dank seines schwarzen Humors. In einer Episode entdecken die Passagiere, dass alle den Flugbegleiter kennen und ihm Leid zugefügt haben – der Mann verschanzt sich im Cockpit und will die Maschine zum Absturz bringen. Dass aus dieser aberwitzigen Fiktion brutale Realität werden könnte – wer hätte das gedacht? Unterdessen fragten sich auf Twitter zahlreiche Menschen, ob Lubitz den Film gesehen habe.
Das kriminelle Potenzial in der Fernseh-, Film- und Bücherwelt hat quantitativ zugenommen. Ob das aber zu mehr Verbrechen führt? Nein. Zumindest nicht in der Schweiz. Die Zahl der Delikte sank 2014 um 8,5 Prozent und die Anzahl Tötungsdelikte war so gering wie seit 30 Jahren nicht mehr. Denn, um beim «Tatort» und anderen Krimi-Fiktionen zu bleiben, was fasziniert die Leserin, was lockt den Zuschauer vor den Fernseher? Sind es die Untaten, ist es die Verlockung des Bösen – oder nicht doch die möglichst spannend erzählte Auflösung der kriminellen Taten? Die Helden dieser Reihen, die Identifikationsfiguren und Quotentreiber sind nicht die Böswichte, sondern die Ermittler. Und sie liebt man wegen ihrer Intelligenz, ihrer Sprüche oder unkonventionellen Methoden. Zumindest, wenn man seine sechs Sinne im Griff hat – und psychisch nicht angeschlagen ist. Das aber war Lubitz, das sind all die ihm verwandten Amokschützen, Geiselnehmer ...
Deshalb kommt uns das Muster der Schuldzuweisung an die Krimis so bekannt vor: Nach einem Amoklauf an einer Schule wird reflexartig gefragt: Spielte der Täter (zu) viele Games? Gar Killergames? Ahmte er nach, was er am Bildschirm gelernt hat? Wurde er durch die Verherrlichung, durch die alltägliche Präsenz von Gewalt zu seiner Tat angetrieben, seine Angst und Scham ausgeschaltet? Den Zusammenhang zwischen Games, Filmen, Büchern und Gewalttaten kann allerdings niemand schlüssig beweisen. Das Gegenteil aber auch nicht.
Ein Krimi- und Games-Verbot wird niemand fordern wollen. Denn trotz scheinbarem Nachahmer-Effekt: Nicht die Fiktion ist die Basis des Bösen, sondern die Realität. Selbst abstruse Geschichten, grenzenlos Böses schöpfen die Filmer und Autorinnen nicht nur aus ihrer Fantasie, sondern aus der Wirklichkeit. Müsste man also, um Nachahmer-Täter zu verhindern, konsequenterweise «die Geschichten» aus der realen Welt verbieten? Also alle Berichte über Terroranschläge, Selbstmordattentate, Geiselnahmen, Kriege. Jetzt und rückwirkend. Zensur total. Und um die gewaltfreie Gesellschaft zu erreichen – oder sie uns vorzugaukeln? –, dürften auch keine News über Raser, Einbrecher, Hochstapler und Betrüger mehr erscheinen. Der «Tatort» aber auch nicht. Ob eine solche Diktatur des
Guten funktionieren würde? Und möchten wir das wirklich?