Wenn es den öffentlichen Verkehr hierzulande nicht gäbe, müsste man ihn erfinden. Rein praktisch, weil die Verschiebung von A nach B ein schieres tägliches Erfordernis ist. Aber nicht nur deshalb. Fast ebenso wichtig ist der dank der Eisenbahn nicht versiegende Quell an unüberbietbaren Geschichten, die nur der Alltag so schön schreibt.
Gerade zu szenisch war es gestern Morgen, als der schlaftrunkene Pendler den immer gleichen Wagen besteigen wollte und sich zunächst unsanft den Kopf an einer sich sonst wie von Zauberhand öffnenden Türe stiess. «Defekt», hiess es dort – doch dessen wurde er zu spät gewahr. Immerhin: Das Teil liess sich mit Muskelkraft öffnen. Die nächste Überraschung folgte allerdings auf dem Fuss. Zappenduster war es im Waggon. Kein Lichtlein erhellte die apokalyptisch anmutende Finsternis. Einerlei, dachte sich der Pendler und liess sich im Fauteuil nieder. Um Sekunden später festzustellen: Gar kalt ist es im Abteil. Kälter gar als auf dem Perron, wie ihm schien. Dafür war es herrlich ruhig, und menschenleer war es um ihn herum. Schon fast wohlig wurde dem tapferen Pendler darob.
Und es kam noch besser: Als die Zugführerin kontrollieren wollte, ob sich auch ja niemand im temporären Verlies niedergelassen habe, wurde sie des einsamen Reisenden angesichtig und in der Sekunde von derartigem Mitleid erfasst, dass sie sich zu einer mir bis dahin nie zuteilgewordenen Geste hinreissen liess. In meinem Portemonnaie trage ich einen Gutschein über sechs Franken bei mir, der mich zum kostenlosen Bezug eines Heissgetränks im Speisewagen berechtigt. Grund: «Kalter und dunkler Wagen.» Mir wurde warm ums Herz, trotz Ganzkörper-Schlottern.
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