Solothurner Filmtage
Der Geist von Solothurn erobert Alpen

Alain Berset ist Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern und damit Kulturminister. Dieser Text ist eine gekürzte Version der Eröffnungsrede, die er am Donnerstagabend in Solothurn hielt.

Bundesrat Alain Berset
Bundesrat Alain Berset
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Im Landhaus werden die 51. Solothurner Filmtage eröffnet.

Im Landhaus werden die 51. Solothurner Filmtage eröffnet.

Keystone/Peter Schneider

An den Solothurner Filmtagen wird seit über einem halben Jahrhundert die reale, moderne Schweiz mit filmischen Mitteln beleuchtet. Solothurn ist der Ort, wo sich die Schweiz selbst begegnet. Hier hat der neue Schweizer Film Mitte der Sechzigerjahre den idyllischen Heimatfilm abgelöst.

Und jetzt das! Das Schweizer Filmjahr 2015 wurde geprägt durch «Heidi» und «Schellen-Ursli». Fazit nach 50 Jahren neuem Schweizer Film: Die Alpen sind offenbar unwiderstehlich. «Heidi» ist der erfolgreichste Schweizer Film aller Zeiten, wenn man die Eintritte im In- und Ausland zusammenzählt. Auch Xavier Kollers «Schellen-Ursli» liess die Kassen klingeln – sozusagen mit der ganz grossen Glocke. Die Alpen sind seit langem ein Leitmotiv unseres Selbstverständnisses und sie haben massiv abgefärbt auf unser Wesen. Der Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer sah in den Schweizern schon im 17. Jahrhundert eine biologisch einzigartige Spezies: den «homo alpinus». Er beschrieb diesen als «gesund und kräftig, redlich und gerecht, mutig und tapfer» – und natürlich «bescheiden».

Deshalb in aller Bescheidenheit: Die Alpen sind nur der eine Pol unserer nationalen Identität. Der andere Pol ist etwas nervöser, aber auch etwas lebendiger: die direkte Demokratie. So hat die Absolutheit der Alpen ihren Widerpart in einer Staatsform, in der fast alles verhandelbar ist – und auch verhandelt wird. Manchmal fragt man sich schon: Berühren sich diese beiden Schweizen überhaupt? Die Schweiz der zeitlosen Mythen, die Schweiz der Alpen, die uns ergriffen verstummen lassen, und die Schweiz der direkten Demokratie, die ja nichts anderes ist als ein nationales Selbstgespräch, das nie aufhört. Berühren sich die Schweiz, die einfach ist, wie sie ist, und die Schweiz, die sich immer wieder neu erfindet?

Die zwei Schweizen finden durchaus zueinander. Das zeigt auch die Art der Verfilmung der beiden klassischen Stoffe «Heidi» und «Schellen-Ursli». Der «Schellen-Ursli»-Film von Xavier Koller ist frei von Sentimentalität und Heimattümelei. Ebenso der «Heidi»-Film. Kein Alpenkitsch, keine forcierte Swissness. Der Film hält sich eng an die Vorlage und bemüht sich darum, die damalige Zeit wirklich zu begreifen.

Man könnte sagen: Der Geist von Solothurn, der seit je nach einem realistischen Selbstbild unseres Landes strebt, erobert derzeit die Alpen.

Dieser Realismus, der sich der Mythen annimmt, kommt gerade rechtzeitig. Wir brauchen einerseits ein Sensorium für unsere Geschichte, auch eine Anerkennung dessen, dass Mythen wichtig sind – gerade für ein kulturell so vielfältiges Land wie das unsere. Gleichzeitig brauchen wir einen starken Sinn für Realismus, für das Machbare, für das, was uns – ausser den Alpen – noch zusammenhält. Nämlich eine Gesellschaft, in der es fair zu- und hergeht; in der alle, auch die Schwächeren, eine Chance auf ein Leben in Würde haben; in der Gemeinwohl mehr ist als ein leeres Versprechen.

Die Zeiten der krampfhaften Selbstüberhöhung sind vorbei. Und ausgedient hat auch der Pawlowsche Reflex der Selbstverneinung. Beides blühte in der Nische, die unser Land im Kalten Krieg besetzte. Jetzt sind wir mittendrin. Aussenpolitisch, weil die Instabilität zurückgekehrt ist und auch wir uns auf dem Prüfstand befinden – von der Migrationskrise bis zur Beziehung zu unserem wichtigsten wirtschaftlichen und kulturellen Partner, der EU, die ihrerseits nach einer neuen Identität sucht. Und innenpolitisch, weil wir als eines der globalisiertesten Länder der Welt von vielen internationalen Entwicklungen direkt betroffen sind – insbesondere von den weltwirtschaftlichen.

Die Zeit des Behagens im Kleinstaat ist vorbei – als unsere internationale Stellung so stabil war wie die Alpen und Unsicherheit ein Fremdwort zu sein schien. Die Gegenwart scheint offen wie nie mehr seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

All diese Entwicklungen führen in vielen Ländern – auch in der Schweiz – zu einem Rückzug auf das Eigene, das Vertraute, die nahen Verhältnisse. Aber Rückzug bedeutet nicht selten auch Rückschritt.

Unsere Identität haben wir in gewissen historischen Phasen, vor allem den beiden Weltkriegen, gegen unsere Nachbarn definiert – aber noch häufiger mit diesen. Europa, das ist und bleibt unsere erweiterte kulturelle Heimat, auch im Film. Deshalb bleibt unser Ziel unverändert: Die Schweiz soll so bald wie möglich wieder am Media-Filmförderungsprogramm der EU teilnehmen können. Dieses Ziel bleibt aber wohl nur realistisch, wenn wir gute und geregelte bilaterale Beziehungen mit der EU haben. Nicht nur – aber auch – deswegen müssen wir uns gegen die Durchsetzungsinitiative durchsetzen.

Was hält die Schweiz zusammen? Vielleicht gerade unser Wissen darum, dass die Antwort gar nicht anders sein kann als kompliziert. Die Solothurner Filmtage stehen seit je für diese dynamische Schweizer Perspektive auf die Welt – und auf uns selber. Wir brauchen den Geist von Solothurn. Mehr denn je.