Es geht hier nicht um die These eines Wissenschafters oder Politologen. Das ist die Geschichte des Bloggers Tomas Pueyo, der durch Corona plötzlich gehört wurde und spannende Diskussionen anreisst. Die Argumente allerdings, gehen nicht immer auf.
Was bei Historikern sicher hängen bleiben wird, wenn sie auf die aktuelle Pandemie zurückblicken: Die Pandemie wurde schnell zu einer Infodemie. Der mediale Lärm ist angeschwollen, wie sich die Viren vermehrt haben. Parallel zu den Fallzahlen explodierten auch die Meinungsäusserungen.Neben den wissenschaftlichen Experten, die sich per officio mit dem Phänomen beschäftigten, traten eine grosse Menge von «Erklärern» auf, die sich auf Bauchgefühl oder Menschenverstand oder sonst etwas beriefen. So entstand eine Kakophonie und das Hauptproblem dabei schien nicht zu sein, Richtiges vom Falschen zu trennen, sondern vorläufige Erkenntnisse in ein richtiges Licht zu bringen.
So war nicht alles, was nicht direkt von der Wissenschaft kam, Humbug. Aber was Humbug war erkennen und den Leuten klar zu machen, war gar nicht so einfach. Einer, der direkt aus der Blogosphäre kam, war Tomas Pueyo. Der gebürtige Franzose tauchte plötzlich neben anerkannten Experten auf. Eingeführt wurde er als «ehemaliger Berater aus dem Silicon Valley». Bekannt wurde der Stanford-Absolvent durch seine Metapher vom «Hammer und Tanz», mit der er veranschaulichte, wie am besten mit der Corona-Epidemie umzugehen sei. Sein Fazit in aller Kürze: Der «Hammer» wurde zu spät geschwungen, seither versuchen es die meisten Regierungen mit dem «Tanzen», das allerdings mehr einem Stolpern und Schwanken gleicht.
Um gehört zu werden, braucht es offenbar (mindestens) zwei Dinge: eine steile These und eine einprägsame Formulierung. Pueyos Blog heisst «Uncharted Territories» und er läuft gut. Der Blogger mischt sich in allerlei Debatten. Ende September postete er den Beitrag «Das Ende des Nationalstaates».
Seine These: Das Internet und die Blockchain-Technologie bedeuten das Ende für den Nationalstaat. Denn durch das Internet hat der Nationalstaat eine wichtige Gatekeeper-Funktion verloren. Die direkt die Informationshoheit, aber er bestimmt nicht mehr, worüber diskutiert werden soll. Das Alternativbeispiel: Totalitäre Staaten wie die NS-Diktatur missbrauchten das neue Medium Radio für Propaganda – und das recht wirkungsvoll. Freie öffentliche Diskussion ist für die Demokratie zentral. Heute herrscht Anarchie in der Medienwelt. Etablierte – nicht nur staatliche – Medien begegnen immer mehr Misstrauen in der Öffentlichkeit.
Und die zweite Gatekeeper-Funktion, die verloren ging: Die Gelddruck-Maschine (das heisst: die staatliche Einheitswährung, mit der die staatlichen Steuern zu bezahlen sind). Die herkömmlichen Währungen werden durch Bitcoin und Co. abgelöst.
Dazu wird es schwieriger, Steuern einzutreiben. Die Konzerne zügeln ihre Profite in die Steuerparadiese, der Rest der Wirtschaft wird zur Home-Office-Schattenwirtschaft. Das ist Ende des Nationalstaates: Er ist am Ende als Identitätsstifter für die Gesellschaft und als Sponsor für Wohlfahrt und Sozialleistungen.
Nicht ganz unplausibel die These. Historisch allerdings klemmt es ein bisschen. Seit der Französischen Revolution und dem Ende der Könige und Fürsten werden Kriege als Völker- oder eben Nationenkriege geführt. Man kämpft jetzt nicht mehr, weil es der König oder der Fürst will, sondern weil die Nation bedroht ist. Der Einsatz ist erhöht: Verliert der Fürst seinen Krieg, kommt ein anderes Joch. Verliert die Nation, sind die Bürger direkter betroffen. Die Idee der Nation ist nicht eine Folge des Buchdrucks, wie Pueyo suggeriert, sie bekam ihre Bedeutung erst später. Auch wenn die Buchdruck-Technologie die Machtstrukturen verändert hat. Das zeigt die Reformation.
Nun war übersteigerter Nationalismus – mit dem der Nationalstaat verbandelt ist, wie stark, wäre zu klären – ohne Zweifel ein kriegsförderndes Element. Dass das Gespenst der Nation ein bisschen in den Hintergrund tritt, wird von vielen positiv gesehen.
Der klassische Wohlfahrtsstaat entstand in Europa im späteren 19. Jahrhundert, seine Hochblüte erlebte er nach dem Zweiten Weltkrieg. Er war ein Produkt von Demokratisierung und wachsender Produktivität. Massenproduktion und Massenkonsum waren seine Basis. Dass er in letzter Zeit unter Druck gekommen ist, kann man kaum bestreiten. Die Finanzierung der Sozialleistungen durch Steuern stösst an ihre Grenzen. Wie viel sind wir bereit zu bezahlen – und für wen?
Auf die Frage, wie er sich die Finanzierung klassischer staatlicher Leistungen vorstelle, wenn der Nationalstaat mit seinen Identitätsbanden nicht mehr existiert, antwortet Pueyo grundsätzlich: «Wenn es ein menschliches Bedürfnis gibt, dann findet sich eine Lösung dafür.» Nationalstaaten seien «ein Bündel von Dienstleistungen» (Schutz, Bildung, Gesundheitsversorgung und dergleichen). Die könnte ein alternatives System auf der Basis von Internet-Kommunikation auch erbringen. Man könnte sich beispielsweise eine Organisation vorstellen, welche gegen den Klimawandel vorgeht und bei der man weltumspannend für 50 Euro Mitglied werden kann. Nicht alles muss lokal sein wie materielle Infrastruktur wie Strassen oder Datennetze, die man aber durch Benützungsabgaben finanzieren kann. Und wie steht es mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl: «Wem würden Sie lieber Arbeitslosengeld bezahlen? Einem Landsmann, der seit fünf Jahren nicht mehr gearbeitet hat, oder einer Person in Afrika, die hart an ihrer Zukunft gearbeitet hat?»
Pueyo ist zuzustimmen: Die katholische Kirche habe versucht, die Druckerpresse zu unterdrücken anstatt sich zu reformieren. Das war falsch, der technische Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Zwei Wege gibt es, schreibt Pueyo am Ende seines Posts, für die Nationalstaaten in der Zukunft. Der erste ist Totalitarismus, das chinesische Modell mit Überall-Kontrolle und dem Verlust der individuellen Freiheit. Wer den Weg der Freiheit wähle, gerate in den Konkurrenzkampf aller Staaten, der – weil es eine gegenseitige Absprache und Verständigung (zum Beispiel einer Steuerharmonisierung) nicht geben kann, – im Niedergang des Nationalstaatenmodells endet.
Die einzige Frage, die bleibt, resümiert er: Was wird den Nationalstaat ersetzen?
Diese Frage lässt sich beantworten, wenn man an den Anfang zurückgeht. Immer, wenn Menschen sich vergesellschaften, entsteht der Bedarf nach einer staatsähnlichen Struktur. Das Kollektiv, das sich gegen den Einzelnen stellt. Seit den Anfängen im dritten Jahrtausend vor Christus, in Ägypten und den Stadtstaaten im Zweistromland, hat sich der Staat als Macht präsentiert und diese Macht mittels der Gewalt, die ihm zum Schutze der Individuen zugestanden wird, zu erhalten versucht. Das ging mitunter rauer, mitunter weniger rau zu. Aber polizeiliche und militärische Gewalt waren immer der Ursprung der Zentralmacht.
Demokratisierung und Verfassungen, die den Individuen Rechte zusprechen, haben der Gewalt Schranken gesetzt. Das sind zum grössten Teil Errungenschaften des modernen National- oder Sozialstaates. Polizei und Militär und ähnliche Institutionen wird es aber immer geben. Noch immer sind es Regierungen, die den Finger am Abzug der Massenvernichtungswaffen haben.
Man kann, wenn man Pueyo folgt, den Wohlfahrtsstaat so als eine Zwischenepisode sehen. Vielleicht geht er in der heutigen Form zu Ende. Aber der Bedarf an (Staats-)Gewalt wird bleiben. Denn Internet und Blockchain werden privates Eigentum, Marktordnung und Sicherheit der Bürger nicht schützen können. Das hat der Nationalstaat wirkungsvoll geleistet. Besser dieser Schutz wird unter öffentlicher Kontrolle ausgeübt als privat. Und es ist auch besser als Anarchie.
Im Zuge der Industrialisierung übernahm der Staat Fürsorge-Funktionen der Gross-Familie (Altenpflege, soziale Sicherheit). Der Wohlfahrtsstaat im eigentlichen Sinn entstand nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich Kapitalismus und Demokratie trafen, weil das im Zeitalter von Massenproduktion und Massenkonsum nützlich und erwünscht war. Das Kapital war auf die Massen, die Kunden, angewiesen. Und den Leuten ging es, weil es nötig und erwünscht war, dass sie massenhaft konsumierten, immer besser. War dieses Zusammentreffen ein historischer Zufall und deshalb die Epoche des Wohlfahrtsstaates eine Zwischenepisode der Geschichte oder das Resultat einer irgendwie gesteuerten Entwicklung? Ein Ergebnis, das man deshalb bewahren müsste?
Viele aktuelle Probleme sind globaler Natur, Einzelstaaten können sie nicht lösen. Andererseits wird der Ruf lauter danach, die Grenzen der Territorien nötigenfalls auch mit Zäunen und Waffengewalt zu verteidigen. Aber wer sich selbst einsperrt, verliert wirtschaftlich.
Man sieht, was der Blog angestossen hat. Wissenschaft ist es auch hier nicht unbedingt, was Pueyo praktiziert. Das will er aber auch nicht. Seine Posts sind förderlich für die öffentliche Diskussion und können durchaus einige Augen öffnen. Ein Geräusch aus dem Internet, dem man das Ohr durchaus leihen kann.